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Sprache meistern kann nur der Auserwählte. Diese Geschlossenheit ist darum eher ein Merkzeichen der Gesetze des absoluten Staates, der auf seiner Höhe sorgsame Redaktion der Gesetze bereits genügend zu bewerten wusste (vgl. die Gesetzesgebungskommission in Preussen am Ausgange des 18. Jahrhunderts), als des konstitutionellen Staates. Man rühmt der preussischen Gesetzgebung vor 1848, an der der Staatsrat beteiligt war, eine sorgsamere Fassung nach als modernen Gesetzen. Gelegentlich nicht mit Unrecht. Die kleinere Zahl trägt auch in dieser Hinsicht eine deutlichere Verantwortlichkeit als der vielköpfige Gesetzgeber im Parlament, dem die Zusammenhänge der Teile mit dem Ganzen des Gesetzes, gar des Rechtes nicht immer gegenwärtig sein können, der zuweilen auch die Arbeit überstürzt und selbst in Fragen der Technik nicht immer seine engeren politischen Ziele zurücktreten lässt. Vorschläge, umfangreiche Gesetze nur in dem Sachlichen durch das Parlament zu beschliessen, für die Form aber einem Vertrauensmanne freie Hand zu lassen[1], sind deshalb allen Ernstes in Österreich gemacht worden; sie sind aber im ausgebildeten Konstitutionalismus kaum mehr als fromme Wünsche. Schon die Übertragung der erneuten Publikation eines unübersichtlich gewordenen Gesetzes durch den Gesetzgeber an ein Amtsorgan (Kanzler, Minister), wie sie z. B. durch das Ermächtigungsgesetz vom 17. Mai 1898 an den Reichskanzler erfolgt ist, hat bei der Durchführung ihr Bedenkliches gezeigt, indem sie bei der Ersetzung von Verweisungen auf ältere Gesetze durch die entsprechenden Vorschriften der neu bekanntgemachten Texte einer nachprüfenden Beurteilung des Amtsorganes Raum lässt.[2]

Es muss hier genügen, auf die Gefahren einer Unterschätzung der Form nur hingewiesen zu haben. „Wenn auf irgend einem Gebiete, so erweist sich auf dem Rechtsgebiete der sprachliche Ausdruck nicht bloss als das Kleid, sondern als die wahre Leiblichkeit des Gedankens.“ (O. Gierke.)


Schluss.

Das Gesetz hat die höchste Macht im Staate, über jedweden, den Landesherrn und sein Haus nicht ausgenommen. Es bindet mit menschlichem Bande, auch wenn es im Religiösen[3] oder Nationalen (z. B. Bestrebungen in Finland) gegen das Gewissen geht, und niemand kann von der Befolgung lösen, solange das Gesetz gilt. Es gilt immer das letzte gesetzliche Wort. Indes, Gesetze erben sich nicht nur fort, sie sterben auch. Es ist eine der vornehmsten Aufgaben einer Politik der Gesetzgebung, wegzuräumen, was des Rechtes zu binden nicht mehr wert ist. Für solchen Prozess zeigt nicht bloss alter, gesetzesdurchsetzter Boden die geeignete Anlage, sondern nach aller Erfahrung, wenngleich aus andern Gründen, auch junger Boden, in den die Gesetzesstecklinge erst vorsichtig einmal eingesetzt sind, als Versuch, ob sie Wurzel schlagen: so fallen in unsern Kolonieen mit ihrer fortschreitenden Entwicklung zahlreiche Einzelgesetze, sobald sich die Möglichkeit ihrer Vereinheitlichung ergibt, zum Opfer. Das letzte Wort spricht aber gar nicht immer förmlich der Gesetzgeber. Gesetze können sich überleben; sie können in ihrer Wirkung ausgeglichen, abgelenkt werden durch eine danebenlaufende Gesetzeswandlung, wie sie das Recht des Reiches bereits mehrfach erkennen lässt, und wie sie z. B. in Bayern während der Regentschaft unter dem Drucke der Notwendigkeit für das Fortschreiten des staatlichen Lebens abgerungen ward. Oder sie sterben an dem Widerstande, selbst dem passiven; eine entgegenstehende Gewohnheit lässt das Gesetz in Vergessenheit geraten, löst es ab. Die Frage ist allerdings sehr bestritten. Aber die derogierende Kraft der Gewohnheit leugnen, heisst, wie ich meine, sich gegen Naturgesetze auflehnen. Auch provisorisch bloss können Gesetze überwunden werden, in Fällen der Not. An die sog. Notverordnungen


  1. Für das italienische Strafgesetzbuch vom 30. Juni 1889 hatte das Ministerium einen entsprechenden Auftrag vom Parlament erhalten. (Lacointa, Annuaire de législation étrangère 19 S. 402.)
  2. Ein durch die parlamentarische Obstruktion völlig entstelltes Gesicht zeigt § 1 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 (Bezugnahme auf Beschlüsse der Reichstagskommission!)
  3. Aus der Enzyklika des Papstes an die preussischen Bischöfe vom 5. Februar 1875: . . . denunciantes omnibus, ad quos ea res pertinet, et universo catholico orbi leges illas irritas esse, ut pote quae divinae ecclesiae constitutioni prorsus adversantur.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/312&oldid=- (Version vom 1.8.2018)