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von Gesetzgebung und Justiz erfolgt aber auch, wie klar ersichtlich, nach einem rein äusserlicher Momente, nämlich der Nichtzugehörigkeit zu diesen beiden letzteren Staatsfunktionen. Damit ist ein Element der Unsicherheit gegeben, das erst die Beziehung zwischen Verwaltung und Justiz zu einem geistigen Problem gestaltet. Denn würde eine reinliche Grenzscheidung zwischen ihnen und allen rechtlichen und staatspolitischen Verhältnissen vorhanden und durchführbar sein, so wäre eine Einteilungsart der Staatstätigkeiten gewonnen, die systematische und technische Bedeutung besässe, nicht aber bis zu den letzten Tiefen staatsrechtlicher Lebensgestaltung hinabreichte.

Dass dem so ist, zeigt die Bedeutung der Zuweisung der staatlichen Funktionen an verschiedene Organe. Nach der französischen Theorie des 18. Jahrhunderts (Montesquieu, Rousseau) dürfen jene drei Funktionen nicht in der Hand eines einzelnen Menschen, insbesondere des Monarchen sein, da hierdurch naturnotwendig die Tyrannei begründet würde. Wer neben der Verwaltung die Rechtspflege und die Gesetzgebung in seiner Person vereinigt, vermag das Recht in dem einzelnen Anwendungsfalle nach seinem Willen zu beugen, dies sogar noch mit einem Schein der Gerechtigkeit, da eine Berufung auf das Gesetz erfolgt, freilich auf ein solches, dass er stets umändern und aufheben kann. So sollen denn die Funktionen der Staatsgewalt nach der konstitutionellen Theorie geteilt sein: die Gesetzgebung soll dem Volke zustehen, die Gerichtsbarkeit unabhängigen Gerichten, lediglich die Verwaltung bleibt in der Hand des Monarchen oder obersten Staatschefs. Durchgeführt ist aber in den modernen Kulturstaaten nur das Zweite, die Unabhängigkeit der Gerichte. Dagegen steht die Gesetzgebung nicht allein dem Volke zu, wird vielmehr am häufigsten ausgeübt durch das Parlament im Zusammenwirken mit einem anderen Staatsorgan, insbesondere dem Monarchen. Die Verwaltung ist zwar nominell bei dem Staatshaupt verblieben, doch hat seine Machtbefugnis eine erhebliche Einschränkung dadurch erfahren, dass die Verwaltungsakte unter der Verantwortlichkeit der Minister vorgenommen werden und dass die Freiheit der monarchischen Verwaltungstätigkeit erheblich begrenzt erscheint durch die Organisationsgesetze und spezielle Verwaltungsnormen. Denn jene lassen ein Abweichen von ihren Vorschriften nicht zu, diese legen der monarchischen Gewalt positive Schranken auf. Auch zeigt sich, dass die Idee der Trennung der Gewalten zwar verbunden erschien mit der ihrer Unabhängigkeit und Gleichwertigkeit, dass aber hier grundlegende Irrtümer vorliegen.

Denn Verwaltung und Justiz sind der Gesetzgebung nicht gleichgestellt, ihr vielmehr untergeordnet. Zwar kann und muss die Justiz die Einwirkung einer anderen Gewalt von sich abwehren, und es sind für sie grundsätzlich nur Rechtsnormen massgebend, aber diese stammen in der Hauptsache aus der Gesetzgebung – ein Teil kann allerdings auch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnommen werden. Für die Verwaltung sind sowohl Rechtsgrundsätze wie Zweckmässigkeitsrücksichten massgebend. Hier klingt die Lehre vom Rechtsstaat an (siehe unten II). Es hält aber auch die Auffassung von der Selbständigkeit und Unbeeinflussbarkeit der Gewalten kritischer Prüfung nicht stand. Die schroff durchgeführte Teilung der Gewalten müsste die Einheit des Staates vernichten, da sie einzelne Ausflüsse der einheitlichen Staatsgewalt zu selbständigen und unabhängigen Mächten erhöbe. Unausbleiblich wäre, dass die Gewalten gegeneinander arbeiteten, sich rieben und zerrieben und somit anarchische Zustände herbeiführen würden. So müssen denn die Funktionen vielfach ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen. Vom politischen Standpunkte gesehen ist sogar die Gesetzgebung von der Rechtsprechung nicht unabhängig. Denn sie muss in den Ergebnissen der Rechtsprechung vielfach einen Prüfstein für die Richtigkeit und Zweckmässigkeit der Normen sehen. In Wirklichkeit haben die Veränderungen der Gesetze häufig ihren Ursprung in der Lage, die durch die Judikatur geschaffen worden ist, wenn diese, die letzte Folgerung aus den gegebenen Rechtsnormen ziehend, die Fehler des Gesetzes aufdeckt oder seine Unzulänglichkeit, Überlebtheit, Einseitigkeit usw. dartut. Dass Rechtsprechung und Verwaltung sich von der Gesetzgebung nicht unabhängig fühlen können, liegt in dem Wesen dieser, die für die Wirksamkeit der beiden anderen Staatsfunktionen im Rechtsstaat die massgebende Grundlage, freilich in einem besonderen Sinne (vergl. unten II), abzugeben hat. Aber noch in dem besonderen Verstande ist die Verwaltung von der Gesetzgebung untrennbar, der hinweist auf die Formel der „gesetzmässigen Verwaltung“, von der alsbald die Rede sein wird. Die Notwendigkeit einer Beachtung der Judikatur für die praktische Verwaltung leuchtet ebenfalls ohne weiteres

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/334&oldid=- (Version vom 4.8.2021)