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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

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I. Begriffliches und Terminologisches. – Das Wort VG passt auf jede Gerichtsbarkeit, d. h. streitentscheidende Staatstätigkeit, wobei die Verwaltung entweder als Objekt bezw. Partei oder als Subjekt erscheint. VG im ersteren (objektiven) Sinne ist alle Jurisdiktion in Verwaltungssachen, insbes. jede Entscheidung von Streitigkeiten zwischen der Verwaltung und den einzelnen über die beiderseitigen Rechte und Pflichten, einerlei, wer diese Jurisdiktion handhabt, also jede, gleichviel von wem, über die Verwaltung ausgeübte Gerichtsbarkeit, z. B. die Kognition des Zivilrichters über die Stempelpflichtigkeit einer Urkunde, über den von der vorgesetzten Dienstbehörde abgelehnten Besoldungsanspruch eines Beamten, die Entscheidung des Strafrichters über die Gültigkeit einer Polizeiverordnung, über die Rechtmässigkeit der Amtsausübung eines Beamten, dem Widerstand geleistet worden ist (Str.G.B. § 113). Indem andern (subjektiven) Sinn bedeutet VG soviel wie Gerichtsbarkeit der (d. h. durch die) Verwaltung, wobei es nicht auf die Art des Streitgegenstandes, sondern nur auf das Subjekt der Jurisdiktion, welches stets ein Verwaltungsorgan sein muss, ankommt. VG in dieser Wortbedeutung wäre die Entscheidung der höheren Verwaltungsbehörde über eine gegen die Amtstätigkeit der ihr untergeordneten Behörde eingelegten Beschwerde, aber auch z. B. die den Polizei- und Finanzbehörden zustehende Strafrechtspflege (Str.P.O. §§ 453 ff).

Der an die positivrechtliche Gestaltung der Dinge sich anschliessende technische Sprachgebrauch akzeptiert jedoch weder die eine noch die andere Begriffsbestimmung. Er lehnt es ab, alle Fälle, wo über die Verwaltung und ihre Tätigkeit judiziert wird, ohne Unterschied des judizierenden Organs, z. B. auch dann, wenn letzteres der Zivilrichter ist, als VG zu bezeichnen und lässt diese Bezeichnung nur für solche Einrichtungen zu, welche eine Jurisdiktion durch die Verwaltung zeigen. Er schliesst sich also an den zweiten, subjektiven, Wortsinn an, ist jedoch enger als dieser. VG im sprachgebräuchlichen Sinne ist die von Organen der Verwaltung ausgeübte Gerichtsbarkeit, diese jedoch nur, sofern die betreffenden Organe den Zwecken dieser, materiell nicht administrativen, sondern richterlichen Tätigkeit entsprechend eingerichtet, d. h. nach Organisation, Rechtsstellung, Verfahren den ordentlichen Gerichten angeglichen sind. VG in diesem Sinne besteht, in Gestalt von Einrichtungen, die in den Einzelheiten unter sich weit abweichen, aber in den grossen Grundgedanken übereinstimmen, vornehmlich in Deutschland, Frankreich, Österreich und Ungarn. Ihr Wesen beruht nicht darin, dass die Verwaltung aller Gerichtsbarkeit (streitentscheidender Tätigkeit) beraubt, sondern darin, dass die Verwaltungstätigkeit, soweit sie streitentscheidender Natur, materiell also Gerichtsbarkeit ist, nicht durch die ordentlichen, gewöhnlichen, sondern durch besondere, eigens auf das Streitentscheiden eingerichtete (insbes. kollegiale und unabhängige) Verwaltungsorgane gehandhabt wird. Trennung der streitentscheidenden von der übrigen (reinen, tätigen) Verwaltung (französisch: des contentieux administratif von der administration pure) ; darin liegt die Idee der VG, deren Begriff sich, auf eine kurze Formel gebracht, dahin bestimmen lässt : VG ist eine streitentscheidende Tätigkeit der Verwaltung, ausgeübt durch gerichtsähnliche Behörden (Verwaltungsgerichte) in einem prozessähnlichen Verfahren (Verwaltungsstreitverfahren).

II. Geschichtliche Rückblicke. Die Ausbildung der VG in Deutschland. – Schon im Laufe des 17. Jahrhunderts war in Deutschland die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte mehr und mehr auf die Zivil- und Strafrechtspflege beschränkt worden. Auf die Entscheidung von Streitigkeiten mit der damals emporkommenden und immer mächtiger anwachsenden staatlichen Verwaltung („Polizei“ im Sinne des damaligen Sprachgebrauchs) erstreckte sich diese Zuständigkeit nicht: „in Polizeisachen gilt keine Appellation“ (nämlich: an den

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/339&oldid=- (Version vom 5.8.2021)