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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Ländern 2). Sie sind, wie die ordentlichen Gerichte, unabhängig in der Ausübung ihres Berufes, sodass sie, wie jene, nur dem Gesetz, nicht aber den Anordnungen der Verwaltung, insbesondere nicht Dienstbefehlen vorgesetzter Behörden unterworfen sind. Was die Garantien der Unabhängigkeit betrifft, so sind diese am stärksten ausgebildet bei den obersten Instanzen (Oberverwaltungsgerichten, Verwaltungsgerichtshöfen), deren Mitglieder meist im Hauptamt auf Lebenszeit angestellt sind und das volle Ausmass richterlicher Unabhängigkeit, ebenso wie die Mitglieder des Reichsgerichts, geniessen. Die Verwaltungsrichter der Unterinstanzen dagegen sind, soweit überhaupt Beamte, nicht richterliche, sondern Verwaltungsbeamte, doch steht z. B. den beamteten Mitgliedern der preussischen Bezirksausschüsse (mit Ausnahme des Vorsitzenden Regierungspräsidenten) das Privileg der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit in dem gleichen Masse wie den ordentlichen Richtern zu. Zu den Garantien der Unabhängigkeit gehört auch, wo sie vorhanden, die Teilnahme unbeamteter Elemente („Laien“) an der VG. Diese ist freilich nicht überall eingeführt: nicht in Bayern, Sachsen, Württemberg, Elsass-Lothringen; dagegen verwenden Preussen, Baden, Hessen das Laienelement in ausgedehntem Masse, allerdings nur in den Unterinstanzen, während die oberste Instanz auch in diesen Ländern durchweg nur mit Berufsbeamten (des höheren Verwaltungs- und Justizdienstes) besetzt sind.

Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. In Preussen wird die VG ausgeübt durch die aus Beamten und Laien, mit numerischem Übergewicht der letzteren, gemischten Kreisausschüsse (an deren Stelle in den kreisfreien Städten Stadtausschüsse treten) und Bezirksausschüsse sowie durch das, wie angegeben, ausschliesslich aus Beamten bestehende Oberverwaltungsgericht (Ges. betr. die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das Verwaltungsstreitverfahren v. 3. Juli 1875, Ges. über die allgem. Landesverwaltung v. 30. Juli 1883). Die Kreisausschüsse erkennen stets in erster, die Bezirksausschüsse entweder in erster oder (als Berufungsgerichte der Kreisausschüsse) in zweiter, das OVG stets in letzter (dritter, zweiter, einziger) Instanz. Ähnlich, nur vermöge des Fehlens der Mittelinstanz einfacher ist, die Organisation der VG in Baden und Hessen.

Bayern, Württemberg und Sachsen haben gemeinsam, dass sie die VG unterer Instanz nicht an die aus Beamten und Laien gemischten neueren, sondern an die älteren, nur mit Beamten besetzten Formationen des Behördensystems angeschlossen haben. Demgemäss erscheinen als Verwaltungsgerichte unterer Instanz in Bayern die Distriktsverwaltungsbehörden und Kreisregierungen, in Württemberg die Kreisregierungen, in Sachsen die Kreishauptmannschaften. Über diesen Organen steht in allen drei Staaten der, häufig auch in erster und einziger Instanz erkennende, Verwaltungsgerichtshof (Sachsen: „Oberverwaltungsgericht“).

2. Verfahren. – Die Justizförmigkeit der Verwaltungsgerichte zeigt sich ausser in ihrer Organisation auch in ihrem Verfahren. Dieses, das „Verwaltungsstreitverfahren“ ist eine dem Verfahren der ordentlichen Gerichte, und zwar mehr dem Zivil- als dem Strafverfahren nachgebildete Prozedur. Es ähnelt einem – stark vereinfachtem – Zivilprozess. Die Nachbildung ist freilich keine vorbehaltlose Kopie, vielmehr musste der Umstand, dass bei den Gegenständen der VG nicht nur das private, sondern stets auch das öffentliche Interesse beteiligt ist, zu erheblichen Abweichungen von dem zivilprozessualem Vorbild führen. So ist die dem Zivilprozesse zugrundeliegende Verhandlungsmaxime („quod non est in actis, non est in mundo“) für die VG nicht brauchbar. An ihre Stelle tritt die Untersuchungsmaxime: die Entscheidungsgrundlage des Verwaltungsrichters ist nicht das Parteivorbringen, sondern der von ihm selbständig und unabhängig von den Ausführungen der Parteien zu erforschende Sachverhalt. Allerdings ist der Verwaltungsrichter hinsichtlich seiner Entscheidungen nach dem Recht mehrerer Staaten (so Preussen, Baden, dagegen nicht in Bayern und Sachsen) an die Anträge der Parteien gebunden („ne eat judex ultra petita partium“). Der Prozessbetrieb ist nicht, wie im Zivilprozess, Sache der Parteien, sondern des Gerichts, alle Ladungen, Zustellungen, Beweiserhebungen erfolgen von Amts wegen (Offizialmaxime). Gemeinsam mit dem Verfahren der ordentlichen Gerichte sind dem Verwaltungsstreitverfahren die Grundsätze des beiderseitigen Gehörs, der Mündlichkeit und Öffentlichkeit. Doch gilt das Mündlichkeitsprinzip nur mit gewissen, partikularrechtlich verschieden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/344&oldid=- (Version vom 6.8.2021)