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bemessenen Ausnahmen, welche die Urteilsfällung auch ohne voraufgehende mündliche Verhandlung, auf Grund der Akten, gestatten.

3. Zuständigkeit. – Formell am weitesten reicht die sachliche Zuständigkeit (der Wirkungskreis) der Verwaltungsgerichte in Württemberg und Sachsen. Die Gesetze dieser Länder zählen zunächst eine Reihe von sog. Parteistreitigkeiten des öff. Rechts (Streitigkeiten zwischen Gemeinden und anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts und ihren Mitgliedern oder unter sich oder zwischen Individuen untereinander über Ansprüche und Verbindlichkeiten aus dem öffentl. Recht) als zur Kompetenz der Verwaltungsgerichte gehörig namentlich auf, lassen aber ausserdem noch eine Generalklage (Rechtsbeschwerde, Anfechtungsklage) bei dem obersten Verwaltungsgerichtshof zu in allen Fällen, wo jemand durch eine ungesetzliche Verfügung der Staatsverwaltung (Sachsen: der inneren Verwaltung) in seinen Rechten verletzt oder mit einer ihm nicht obliegenden Verbindlichkeit belastet zu sein behauptet. Der Gesetzgebung Preussens und der meisten anderen Einzelstaaten ist diese Unterscheidung zwischen „Parteistreitigkeiten“ und „Anfechtungs-“ bezw. „Rechtsbeschwerdesachen“ fremd, indem einerseits nicht nur in den Fällen der ersten sondern auch in denen der zweiten Kategorie, da also, wo es sich um Streitigkeiten zwischen Untertan und Staatsgewalt handelt, das Recht auf Anrufung der Verwaltungsgerichte nicht allgemein, sondern nur in den vom Ersatz namentlich aufgezählten Fällen gegeben ist, – andererseits aber diese Fälle prozessual ganz ebenso behandelt werden, wie diejenigen, welche das württembergische und sächsische Recht als „Parteistreitigkeiten“ bezeichnet. Nach preuss. Recht ist jede Verwaltungsstreitsache eine Parteistreitigkeit: Kontestationen zwischen Untertan und Staatsgewalt sind davon nicht ausgenommen, die betreffende Verwaltungsbehörde (z. B. Polizeibehörde) erscheint dabei stets als Prozesspartei und zwar regelmässig in der Rolle des Beklagten.

Ist sonach die Zuständigkeit der preussischen (und ebenso die der bayerischen, badischen, hessischen) Verwaltungsgerichte nicht durch Generalklausel, sondern aufzählend bestimmend (durch das ZG v. 1. August 1883 und viele anderen Einzelgesetze vgl. auch preuss. Ges. über die allgem. Landesverwaltung, § 7), so reicht doch diese Zuständigkeit, vermöge der grossen Zahl und Bedeutung der sie begründenden Bestimmungen, tatsächlich sehr weit. Die wichtigsten Gruppen der den Verwaltungsgerichten in Preussen zugewiesenen Sachen sind folgende:

a) Streitigkeiten der Gemeinden und höheren Kommunalverbände (Kreise, Provinzen) einerseits mit dem Staat (über ihr Recht auf Selbstverwaltung, z. B. über die Berechtigung der Staatsaufsichtsbehörde, die Einstellung eines Ausgabepostens in das Gemeindebudget zu verlangen), andererseits mit ihren Mitgliedern bezw. Einwohnern (z. B. über Erwerb, Verlust und Inhalt des Bürgerrechts, über das Recht auf Benutzung von Gemeindeanstalten, die Pflicht zur Zahlung von Gemeindeabgaben.

b) Streitigkeiten über die Tragung öffentlicher Lasten z. B. der Wegeunterhaltungspflicht, der Pflicht zur Räumung von Wasserläufen, der Schulbaulast, der Armenlast.

c) Streitigkeiten über den Umfang der polizeilichen Verfügungsgewalt: gegen Verfügungen der Orts-, Kreis- und Landespolizeibehörden kann nach §§ 127 ff. LVG bei den Verwaltungsgerichten Klage erhoben werden; die Klage kann nur darauf gestützt werden, dass die Verfügung durch Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts den Kläger in seinen Rechten verletze, oder darauf, dass die tatsächlichen Voraussetzungen nicht vorhanden seien, welche die Polizeibehörde zum Erlassen der Verfügung berechtigt haben würden.

d) Streitigkeiten über die Verpflichtung zur Zahlung direkter Staatssteuern (der Einkommen- und „Ergänzungs“-[Vermögens-]steuer).

Hinzuzufügen ist noch, dass in Preussen die Disziplinargerichtsbarkeit über die Kommunalbeamten den Verwaltungsgerichten übertragen ist.

IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich und Österreich-Ungarn.

1. Frankreich ist in der Ausbildung der VG allen andern Ländern vorangegangen. Die VG ist hier nach Abschluss der Revolutionszeit durch Napoleon I. eingeführt worden, in einem Werke mit dem von ihm bald nach dem Staatsstreich des 18. Brumaire berichteten Neuaufbau

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/345&oldid=- (Version vom 6.8.2021)