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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

der Verfassung und Verwaltung (Verfassung vom 22. frimaire und Gesetz vom 28. pluviose des Jahres VIII der Republik). Einer der leitenden Gedanken dieser Gesetzgebung des Jahres VIII ist die Trennung der streitentscheidenden von der tätigen oder reinen Verwaltung (des contentieux administratif von der administration pure). Letztere wird durchweg von Einzelbeamten (Ministern, Präfekten, Unterpräfekten, Maires) geführt, erstere an Kollegien übertragen, welche indessen nicht aus dem Verwaltungsorganismus hinaus-, sondern in ihn hineinverlegt sind: die conseils de préfecture und der über ihnen stehende conseil d’Etat. So bedeutet die VG in Frankreich seit Anbeginn ihres Bestehens nichts anderes, als was sie heute in Deutschland darstellt: die Rechtskontrolle der Verwaltung durch eine ihr nicht fremde, sondern immanente Macht, durch besondere, gerichtsähnlich formierte und prozedierende Verwaltungsorgane.

Die spätere Gesetzgebung hat die Grundprinzipien dieser napoleonischen Einrichtungen nur ausgebaut, nicht verändert. Danach sind die Hauptorgane der französischen VG noch heute die conseils de préfecture, Präfekturräte, und der Staatsrat, ersterer stets in erster, der Staatsrat stets in letzter (teils in zweiter, teils in erster und einziger) Instanz entscheidend. Von einer Heranziehung unbeamteter Elemente ist in beiden Instanzen Abstand genommen : sowohl die Präfekturräte wie der Staatsrat bestehen nur aus besoldeten Berufsbeamten, die übrigens in ihrer dienstlichen Stellung der Garantieen richterlicher Unabhängigkeit so gut wie völlig entbehren. Der organische Zusammenhang der VG mit der reinen Verwaltung ist in beiden Instanzen stark betont: der Präfekturrat dient nicht nur als Verwaltungsgericht, sondern auch als Verwaltungsbehörde, den Vorsitz in ihm führt der leitende Verwaltungsbeamte des Bezirkes, der Präfekt; der Staatsrat ist nicht nur oberster Verwaltungsgerichtshof, sondern auch, und sogar in erster Linie, ein oberstes, Staatsoberhaupt und Minister beratendes Verwaltungskollegium. Diese Verbindung von Verwaltung und VG auch in der Zentralinstanz stellt eine erhebliche Abweichung von den deutschen Einrichtungen (s. o.) dar: hierdurch und auch in ihrer sonstigen Anlage und Organisation ist die französische VG noch viel mehr Verwaltung, weniger Justiz als die deutsche.

Die sachliche Zuständigkeit der Präfekturräte ist durch zahlreiche Gesetze aufzählend bestimmt. Gegen ihre Urteile findet der Rekurs an den Staatsrat statt, welcher ausserdem, als Verwaltungsgericht erster und letzter Instanz erkennt über „demandes d’annulation pour excès de pouvoir contre les actes des autorités administratives“, also über Nichtigkeitsbeschwerden, welche gegen Akte der Verwaltungsbehörden wegen Machtüberschreitung erhoben worden sind. Auf diesem Wege können Verfügungen und Entscheidungen aller Staats- und Kommunalbehörden vor den Staatsrat gebracht werden, dem damit eine sehr weitreichende Rechtskontrolle über die gesamte Verwaltung ermöglicht ist.

2. Der durch das Gesetz v. 22. Oktober 1875 geschaffenen österreichischen VG ist, im Vergleich mit der deutschen und französischen, eigentümlich der Mangel einer Gliederung in mehrere Instanzen. Der Träger der VG, der Verwaltungsgerichtshof, entscheidet stets in erster und einziger Instanz. Unterinstanzen der VG bestehen nicht, auch nicht in dem Sinne, dass gewissen Verwaltungsbehörden für alle oder bestimmte Fälle streitentscheidender Tätigkeit ein prozessähnliches Verfahren vorgeschrieben wäre. Die streitentscheidende Verwaltungstätigkeit ist auch prozessual nicht differenziert. Alle Streitfragen des Verwaltungsrechts sind zunächst im allgemeinen Instanzenzuge der Verwaltung dadurch zum Austrag zu bringen, dass der Rechtsuchende von dem Mittel der Verwaltungsbeschwerde bis zur letzten Instanz Gebrauch macht: erst nach Erschöpfung dieses Instanzenzuges kann die Sache vor den VG-hof gebracht werden. Dieser – wie die deutschen zentralen Verwaltungsgerichtshöfe ausschliesslich mit Berufsbeamten besetzt und mit allen Kautelen richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet – entscheidet in allen Fällen, in denen jemand durch eine gesetzwidrige Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet. Seine Zuständigkeit ist also, abweichend von dem in Deutschland geltenden Recht, durch eine Generalklausel, und nur durch eine solche, abgegrenzt. Der österreichische VG-hof ist ausschliesslich Kassationsinstanz: er kann die vor ihn gebrachte Verwaltungsverfügung nicht abändern, sondern nur entweder aufheben oder – durch Abweisung der dagegen erhobenen Klage – bestätigen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/346&oldid=- (Version vom 7.8.2021)