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können, weil sie einmal eine „Errungenschaft“ waren; er empfindet es nicht ohne Grund als schweres Hemmnis gesunder Justizgesetzgebung, dass in den Parlamenten der Abgeordnete, der bei einer Kommissionsberatung nach den Bedürfnissen der Rechtspflege stimmt, im Plenum dem Fraktionszwang unterworfen ist und deshalb die für recht erkannte, aber unpopuläre Reform nicht zu befürworten wagt. Dagegen ist dem auf die Besserung der Zivilrechtspflege bedachten Rechtsverständigen die Gleichgültigkeit im Weg, mit der selbst die Grundsätze und die alltäglichen Wirkungen des bürgerlichen Streitverfahrens im Volk und selbst unter den Leuten, die sich besonders mit der Erörterung und Behandlung des öffentlichen Wesens abgeben, betrachtet – oder vielleicht geradezu übersehen werden; er ist betroffen davon, wie wenig selbständiges Nachdenken der Bürger, der nicht eben selbst in einen Prozess verwickelt ist, den Problemen widmet, die ihm die wichtigsten scheinen: etwa der Stellung des Richters und des Anwalts, der Unabhängigkeit und Würde des Richteramts, der Einheit der Rechtsprechung, der Einfachheit und Billigkeit, aber auch der Energie des Prozessgangs, oder, um einige verstreute Einzelfragen hervorzuheben, der Zeugnispflicht (Beeidigung), dem Armenrecht und der unentgeltlichen Gewährung von Rechtsrat, dem Prozessführungsrecht des Ehemanns und der Vollstreckung in das Frauen vermögen, dem Präventivakkord oder schliesslich dem Aufhebungsverfahren gegen rechtskräftige Urteile. Nur das verkehrte und verwirrende Schlagwort der „Weltfremdheit“ des Richters ist gleichmässig oder wenigstens ohne besondere Differenzierung für Zivil- und Strafrechtspflege durch die Presse in die Vorstellung der Menge von unserm Rechtswesen eingedrungen, während zum Beispiel die nah verwandten und durchaus berechtigten Klagen über unverständliches und oft geradezu auf die Verblüffung des Rechtsunkundigen hinauskommendes Juristendeutsch ohne Resonanz bleiben und sich höchstens gelegentlich in der humoristischen Ecke des Feuilletons auslassen dürfen.

2. Diesem allem zum Trotz tritt in der neuern Reformbewegung auf dem Gebiet der Zivilrechtspflege nichts anderes so deutlich hervor wie das Verlangen nach stärkerer Bewertung des Öffentlichrechtlichen im Zivilprozess. Das zeigt sich nicht nur in der deutschen Literatur; ein Vergleich mit den Bestrebungen in Frankreich und Italien, in den Vereinigten Staaten und in England, wie ihn das Prozessreformheft der Rheinischen Zeitschrift (Juli 1910) an den Abhandlungen von Tissier, Chiovenda und Round erlaubt, zeigt überall, sogar bei den verschiedensten Zuständen der Staats- und Rechtskultur und bei einer im übrigen unverkennbaren Unvergleichbarkeit der Rechtspflege-Einrichtungen, dieselbe Tendenz. (Vgl. besonders a. a. O. S. 490, 491; 505, 506; 533 fgd., 563 und meine Abhandlung über Justizreform im Jahrbuch des öffentl. Rechts 1907 153 fgd., 166, 167). Sie impliziert keineswegs ein Aufgeben der s. g. Verhandlungsmaxime, obgleich natürlich für sie der Gegensatz zwischen dem gerichtlichen Verfahren in Strafsachen und in Zivilsachen gegenüber der Betonung des gemeinsamen gerichtlichen (Staats-) Charakters beider Prozesse zurücktreten muss. Ein guter Prüfstein für die ältere und die neuere Auffassung ist der Fall einer auf Klage und Klagbeantwortung (oder sonstigen genügenden Schriftenwechsel) anberaumten Verhandlung, zu der der Richter vorbereitet erscheint – er hat auch bei der Verteilung der Geschäfte unter seine Amtsstunden mit der wahrscheinlichen Dauer dieser Verhandlung rechnen müssen – , die Parteien aber beide ausbleiben (oder eine Partei ausbleibt und ihr erschienener Gegner daraufhin sich weigert, allein mit dem Richter die Sache fortzuführen). Mit anderen Worten: Die für den Säumigen mildere oder strengere Gestaltung des Versäumnisverfahrens ist eines der besten Kriterien für den Geist der Prozessordnung. (Tissier a. a. O. S. 560 zum französischen Entwurf; die sehr schwächlichen Änderungen der Novelle von 1900 zur deutschen Z.P.O.; die radikale Unterdrückung der Parteiversäumnis im englischen Prozess.) Je mehr die öffentlich-rechtliche Seite des Zivilprozesses betont wird, desto mehr Gewicht legt man auch auf die Bedeutung der Gerichtsverfassung für den Prozess. Für das geringe Verständnis, das noch die deutsche Justizgesetzgebung von 1879 diesem organischen Zusammenhang entgegenbrachte, ist es bezeichnend, dass bei grundverschiedener Gestaltung des Straf- und Zivilprozesses die Verfassung der Gerichte in einem selbständigen Gesetz für die beiden Prozesse zusammen geordnet wurde. Ebenso bezeichnend ist auf der anderen Seite, dass in der Justizverwaltungspraxis der deutschen Staaten überall eine mehr oder weniger ausnahmslose Trennung der Zivilrichter- und der Strafrichter-Laufbahn, im Zusammenhang mit der Beförderung vom Staatsanwalt zum Strafrichter, besteht.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/352&oldid=- (Version vom 7.8.2021)