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3. Zwei verschiedene Grundformen des Aufbaus einer Gerichtsverfassung sind denkbar und stehen, heute noch, jede mit ihren offenen Nachteilen behaftet, in Geltung. Die eine Form hat für die wichtigen, neue Rechtsfragen aufwerfenden Zivilprozesse ein hauptstädtisches Zentralgericht (Hochgericht) erster Instanz und daneben für die geringeren Sachen, ursprünglich nur für Bagatellsachen und Sonderprozesse, Lokalgerichte erster Instanz durch das ganze Land. Über beiden Gerichtsarten der ersten Instanz baut sich ein Rechtsmittelsystem auf, das in England über dem Hochgericht noch zwei Instanzen (Court of Appeal und Oberhaus-Gericht) kennt, jedoch mit einer durch Herkommen, Schwierigkeiten und Kosten des Rechtsmittelverfahrens und überwiegende Abweisung der eingelegten Rechtsmittel äusserst niedrig gehaltenen Zahl der Appellationen und Ober-Appellationen rechnet (Vgl. mein Englisches Richtertum im Court of Criminal Appeal, 1909, S. 35 fgde, 41). Da überall in der neueren Zeit die Kompetenz der Untergerichte sich auf Kosten der höheren erweitert und dadurch die Autorität der hochgerichtlichen Entscheidungen, selbst bei striktem Präjudiziensystem geschwächt wird, so ist diese erste Form der Gerichtsverfassung gefährdet und braucht da, wo sie sich halten will, die Stütze konservativer Staatsgesinnung und das Gewicht alter Gewohnheit.

Die andere Form der Gerichtsverfassung verstreut die Gerichte der ersten Instanz über das ganze Land, grenzt ihre sachliche Zuständigkeit nach höheren und niedern, personenrechtlichen und vermögensrechtlichen, wichtigen und Bagatell-Sachen (wohl auch nach dem mehr oder weniger auf schleunige Entscheidung drängenden Rechtsschutzbedürfnis) unter einander ab, koordiniert aber dann wieder die höheren und niederen Gerichte der ersten Instanz (Amts- und Landgerichte) in der Wirkung der Prozessführung und der gerichtlichen Entscheidung, die in allen Fällen gleich stark ist (dabei ist nur zu bemerken, dass die den ordentlichen Gerichten der untersten Ordnung gleichstehenden Kaufmannsgerichte in geringwertigen Sachen die stärkste Jurisdiktion besitzen, die das deutsche System überhaupt kennt, da sie inappellabel urteilen). Über den Gerichten der ersten Instanz baut sich auch hier das Rechtsmittelsystem auf, jedoch so, dass die Einlegung des Rechtsmittels gegen das erste Urteil von den Prozessordnungen in jeder Weise erleichtert wird, die höhere Instanz durchaus selbständig und unter mehr oder weniger beschränktem Novenrecht der Parteien den Fall prüft (ohne irgendwelche Stimmung in favorem der Unterentscheidung) und insbesondere nach deutschem Prozessrecht auch der Vorteil der vorläufigen Vollstreckung des erstinstanzlichen Urteils durch die Schadensersatzpflicht des Gläubigers aus § 717 Abs. 2 Z.P.O. herabgemindert ist. Auch der höchste Gerichtshof, dem bei dieser Form der Gerichtsverfassung vollends keine unmittelbare, erstinstanzliche Jurisdiktion zukommt, hat noch eine äusserst breite Zuständigkeit, die durch künstliche Beschränkungen des zu ihm führenden Rechtsmittels in den Grenzen der Leistungsfähigkeit seiner Mitglieder gehalten werden muss. Hier ist der wunde Punkt dieses Systems. Ein Gerichtshof, der nur in den seltensten Fällen – fast nur praeter legem – dazu kommt, den eigentlichen Richterberuf des Urteilens über subjektives Recht und Unrecht zu üben, dafür aber tagaus, tagein die Rechtsanwendung der mittleren Gerichte auf schon in der untersten Instanz festgelegte Tatbestände nachzuprüfen hat, ist in steter Gefahr zum Gegenstück des berüchtigten Wiener Hofkriegsrats zu werden, der vom grünen Tisch aus den im Feld stehenden Generalen und Truppenführern ihre Marschlinie vorschreibt.

4. Eine freiere Gestaltung des Rechtsmittelwesens, die auch dem höchsten Gericht neben seiner Revisions- oder Kassations-Aufgabe einen Anteil an der unmittelbaren Rechtsprechung geben könnte, ist freilich nur in der Art zu denken, dass die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsmittels weithin in das Ermessen der Urteilsgerichte gestellt wird. Ein kleiner Ansatz in dieser Richtung findet sich in der Z.P.O. neuester Fassung im § 708 Ziffer 7 cf 717 Abs. 3. für die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit. Die volle Entwicklung ist aber davon abhängig, dass die Vorstellung eines Rechts der Partei auf das Rechtsmittel wenigstens für die Revision oder Ober-Appellation völlig aufgegeben und das zweite Rechtsmittel ausschliesslich in den Dienst der allgemeinen Justiz gestellt wird; und des weiteren davon, dass man vor der Überlassung der Frage der Angreifbarkeit einer Entscheidung an das Ermessen des Richters nicht zurückschreckt. Jede gesetzliche Regelung, die in gewissen Fällen ein Recht auf Rechtsmittel gäbe oder dem Richter vorschriebe, unter welchen bestimmten

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/353&oldid=- (Version vom 7.8.2021)