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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Voraussetzungen er allein die Erlaubnis zum Rechtsmittelangriff versagen dürfe, ist zu perhorreszieren, insofern sie den Zweck der Einschläferung von Argwohn und Misstrauen gegen den Richter („Willkür“ des Richters) doch nicht zu erreichen vermag, wohl aber ihrerseits eine Quelle von Streitigkeiten vor dem höchstinstanzlichen Gericht werden würde, die ebenso zeitraubend sind wie das Rechtsmittel in der Sache selbst und dem Ansehen der Justiz nur schaden können. Glaubt man also, dass nach der Art der Richter, deren Ermessen walten müsste, eine unbefangene Würdigung der konkreten Dienlichkeit des Rechtsmittels nicht zu erwarten ist, vielmehr zu befürchten stünde, dass die Richter entweder in übermässig vielen Fällen die Verantwortung für die Entscheidung auf das höhere Gericht würden abschieben wollen oder umgekehrt geneigt wären, ihre Urteile für unfehlbar zu halten oder jedenfalls der Kritik durch das höhere Gericht zu entziehen (sog. Vermauerung), so ist die erörterte Umbildung des Rechtsmittelwesens gar nicht zu versuchen. Andererseits könnte eine Sicherung gegen ein bei einzelnen Richtern etwa vorhandenes Vermauerungsbestreben beim Kollegialgericht darin gefunden werden, dass zum Versagen des Rechtsmittels Einstimmigkeit verlangt würde.

5. Unmittelbar hängt mit der eben berührten Frage eines der Tatbestandsermittlung ganz beraubten Revisionsgerichts zusammen die hier nur kurz zu streifende Frage der Ausbildung und Auswahl der Richter, des gelehrten oder Laienrichtertums, der monokratischen oder kollegialen Verfassung der Gerichte und innerhalb der Kollegialverfassung die Frage der grösseren oder geringeren, der notwendig ungeraden oder vielleicht auch geraden Zahl, der Mehrheit oder Einstimmigkeit bei Entscheidungen ungerad besetzter Kollegien. Zum Teil finden diese dem allgemeinen Staatsrecht so gut wie dem Prozess angehörenden Probleme an anderer Stelle des Handbuchs ihre eigene Darstellung. Neuere Vorgänge in England nötigen zu entschiedener Betonung der Forderung, dass bei der Auswahl der Richter ihre politische Gesinnung völlig ausser Betracht bleiben müsse. Dort ist von Parlamentsmitgliedern der Regierungspartei verlangt worden, dass bei der Besetzung gewisser Richterstellen der Lordkanzler, in dessen Hand die Ernennung liegt, den Wünschen des Abgeordneten Rechnung trage, in dessen Bezirk der Richter Jurisdiktion üben wird, damit einflussreiche Parteimitglieder nicht ohne die Belohnung dieser – ehrenamtlichen – Stellen zu bleiben brauchen. Die Zurückweisung dieser Prätensionen durch den Lordkanzler ist nicht ohne merkbare Erschütterung seiner Stellung gelungen. Während man früher die Parlamente als Hüter und Wächter der unparteiischen Besetzung richterlicher Ämter durch die Regierung anzusehen geneigt war, ist heute umgekehrt die Regierung im Parlament vielfach dazu gedrängt, die politische Farblosigkeit des Richters gegen die Patronagewünsche wie gegen die parteipolitische Kritik der Volksvertreter zu verteidigen, ein Zustand, der im Interesse der parlamentarischen Verfassung (und besonders vom Standpunkt derer, die an die Möglichkeit einer demokratischen Regierungsform glauben) mehr zu bedauern ist als im Interesse der Justiz.

Grössere praktische Bedeutung hat für deutsche Verhältnisse heute die Frage, ob an den Richter ausschliesslich oder vorwiegend Anforderungen des technisch-juristischen Könnens zu stellen seien oder ob seine Tauglichkeit zum Richteramt sich wesentlich nach seiner Lebenskenntnis, seinem Verständnis der sittlichen Anschauungsweise und der wirtschaftlichen Gewohnheit des Volks beurteilen solle. Dabei ist, wenn dies letztere emphatisch bejaht wird, nur eine neue Frage aufgetan: ist es möglich, dem künftigen Richter diese Fähigkeiten in der Ausbildungszeit anzulernen und ihn vor der Anstellung darauf zu prüfen, ob er sie erworben hat und richtig übt? Wir dürfen der Möglichkeit, da ihre Verwirklichung so sehr zu wünschen wäre, das beneficium des Zweifels geben, uns aber nicht verhehlen, dass auf jeden Fall eine Verstärkung der diskretionären Gewalten des Leiters der Justizverwaltung in Kauf genommen werden muss, und dass von der Forderung des Verständnisses für die „Wirtschaft“ (im Gegensatz oder als Ergänzung zum reinen „Recht“) nur ein kleiner Schritt ist zu der Forderung eines Einschwörens der Richter auf bestimmte wirtschaftliche Anschauungen und Dogmen, seien sie wissenschaftlicher oder politischer Natur.

Bestimmteres lässt sich über die Kollegialverfassung der Gerichte sagen. Der Einzelrichter der ersten Instanz ist nirgends in Gefahr, bei einer Reform dem Kollegium weichen zu müssen, im Gegenteil ist einer der wenigen Punkte, an denen die Rechtsvergleichung eine Regel für die ganze

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/354&oldid=- (Version vom 7.8.2021)