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eine Probe, wie sie für sehr viele andere Reformvorschläge ebenso drastisch zu wünschen wäre. Die ordentlichen Gerichte werden sozusagen in den Kampf ums Dasein gestellt, und wenn sie in diesem Kampf sich verjüngt und ungeeignete Stücke ihrer Ausrüstung gegen wirksamere vertauscht haben, so werden sie die Jurisdiktion wieder an sich ziehen können, die ihnen zugunsten der Sondergerichte genommen wurde.

Ganz anders sind die in Baden und Württemberg fungierenden Gemeindegerichte einzuschätzen. Sie dienen den ordentlichen Gerichten zu sehr praktischer Erleichterung der Geschäftslast und haben sich so sehr bewährt, dass die Durchführung des ihnen zugrunde liegenden Gedankens durch das ganze Reich angezeigt erscheint und nur die Verschiedenheit des politischen Verhältnisses zwischen Gemeindevorstehern und Gemeindeangehörigen in den verschiedenen Staaten einen Grund zur sorgfältigen Prüfung der Frage abgibt, ob diese Rechtsprechung in Bagatellsachen auch anderwärts wie in Südwestdeutschland durch den Vorsteher oder einen deputierten ständigen Gemeinderichter ausgeübt werden kann. Die Ergebnisse, die das Verfahren in der Praxis gehabt hat, sind unter reiflicher Überlegung des Für und Wider in zwei Abhandlungen von R. Schmidt (Festgabe f. Laband 2 339 und Weidlich (Rhein. Z. 1 45) und in der Monographie von Hegler (Tübingen 1910) vortrefflich zur Darstellung gebracht.

7. Kommen wir zu einer durchgehenden Bagatellgerichtsbarkeit für das ganze Reich, so wäre hier zweckmässig einzusetzen mit der Übertragung der Funktion der Rechtsratserteilung an den Richter. Das, was damit erreicht werden sollte und anderwärts wirklich erreicht wird, nämlich eine Stärkung des richterlichen Imperiums in der Vorstellung des Volkes und in der Wirklichkeit, ist im geltenden Recht wieder nur in schwachen Ansätzen vorhanden. Das Sühneverfahren bei den Amtsgerichten liefert in der Praxis nicht die Erfolge, die es auf dem Papier verspricht und schliesst ja auch durch seine kontradiktorische Gestaltung von vornherein die Fälle aus, in denen einer Partei wirksamer Rechtsschutz schon durch das Gehör und die Belehrung seitens des Richters gewährt werden kann. Der Gerichtsschreiber soll den Verkehr mit der anwaltlosen Partei vermitteln, hält aber meistens in der Praxis mit der Ratserteilung zurück, wo es sich nicht nur um die Formen der Prozessführung handelt, und ist jedenfalls nicht von Amts wegen dazu bestellt. Am lebendigsten ist die unmittelbare Macht des Richters, einer bedrängten Partei ohne Fristen und Termine des kontradiktorischen Prozessgangs zu helfen bei den einstweiligen Verfügungen der §§ 935, 940 Z.P.O. und besonders in der, aus der Z.P.O. etwas herausfallenden, jedoch durchaus gerechten Vorschrift, die dem Richter die Wahl der zweckmässigen Mittel zur Hilfe freistellt: „Das Gericht bestimmt nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforderlich sind. Die einstweilige Verfügung kann auch in einer Sequestration sowie darin bestehen, dass dem Gegner eine Handlung geboten oder verboten, insbesondere die Veräusserung, Belastung oder Verpfändung eines Grundstücks untersagt wird“ § 938 (die Vorschrift ist gesetzestechnisch gut gefasst, insofern sie im zweiten Satz nicht kasuistisch beschränkt, sondern nur exemplifizierend das Ermessen des Richters leitet; sie hat dadurch überhaupt für diese Fragen der Methode der Gesetzesfassung hervorragende Bedeutung und wird, auch als Muster für die Regelung richterlicher Gewalten im Strafverfahren, nicht genügend gewürdigt). Dass die Verfügung, die der Richter trifft, eine einstweilige, keine der Rechtskraft fähige ist, versteht sich; es kommt aber für die Erweckung der Vorstellung eines starken, im Notfall für den Verletzten, Schutzbedürftigen wirklich brauchbaren richterlichen Imperiums nicht so wohl die Unangreifbarkeit und gesetzesgleiche Kraft einer nach vier oder fünf Jahren des Prozessierens von sieben Richtern erlassenen Endentscheidung des Rechtsstreits an, als auf die Möglichkeit sofortigen Eingreifens, selbst wenn es keinen dauernden Bestand hat.

Solange der Richter nicht an ordentlichen Gerichtstagen, sei es öffentlich, sei es in seinem Amtszimmer, um Rechtsrat angegangen werden kann, trifft die Justizverwaltungen die doppelte Pflicht der Überwachung, aber auch jeder möglichen Förderung der sozialen Einrichtungen, die der Erteilung von Rechtsrat und dadurch der Justiz selbst dienen. Sparsamkeit im Versagen von Unterstützungen an solche Auskunftsstellen wäre, wenn diese die Gewähr breiter öffentlicher unentgeltlicher Zugänglichkeit und sachlicher Leitung bieten, geradezu eine Vergeudung von Volksvermögen. Wer mit den Rechtsangelegenheiten der ärmeren und amtlichen Schreibwerks unkundigen Volksklassen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/356&oldid=- (Version vom 7.8.2021)