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zu tun gehabt hat, weiss, welche schädliche und dem ganzen Geist unserer Rechtsordnung feindliche Rolle die Einschüchterung einer nicht vertretenen und nicht beratenen Person durch juristisch gefasste, mit den gesetzlichen Folgen dieser oder jener Handlung oder Unterlassung drohende Schreiben von Anwälten der Gegenpartei spielt. Bei der letzten Novelle zur Z.P.O. ist für die Neuregelung des Mahnverfahrens darauf hingewiesen worden, dass im Volk die alte Fassung des § 692 viel missverstanden worden sei; weil der Zahlungs„befehl“ nämlich dem Schuldner gebot, entweder zu zahlen oder Widerspruch zu erheben, sollen die in dieser Weise Gemahnten oft geglaubt haben, beim Unvermögen der Zahlung eben wenigstens dem Alternativgebot folgen und den Widerspruch erheben zu müssen, selbst wenn sie gar nicht die Absicht oder die rechtliche Möglichkeit hatten, den Anspruch des Gläubigers zu bestreiten. Deshalb soll ihnen nach dem neuen Recht nur noch geboten werden, den Widerspruch zu erheben „falls sie Einwendungen gegen den Anspruch haben“. Aber während das Gesetz sich so um eine dem einfachsten Verstand fassbare Ausdrucksweise der Befehle bemüht, die von Rechts wegen ein Privatrechtssubjekt mit Hilfe der gerichtlichen Organe an ein anderes erlassen kann, ist für den aussergerichtlichen Verkehr von Anwälten, Rechtskonsulenten. Konkursverwaltern, Gerichtsvollziehern usw. mit den Gegnern ihrer Klienten die entgegengesetzte Methode leider nicht selten in Anwendung, durchaus nicht immer aus dolosen Beweggründen oder dem Bestreben, in imponierender Form aufzutreten, sondern vielfach aus schlechter Routine. Hier hilft eine Rechtsauskunftsstelle, die ohne Entgelt oder gegen ganz geringe Gebühr angegangen werden kann und das Vertrauen der Bevölkerung geniesst, unmittelbar; dass sie, sofern sie der Rechtspflege dienen will, nicht gegen den Anwalt oder gegen die gerichtlichen Organe arbeiten darf, liegt auf der Hand; ein guter, geschlossener, mit den Gerichten aufs allernächste zusammenhängender und zusammenarbeitender Anwaltstand ist der Justiz heute unentbehrlich und da, wo die Prozessordnung die Mitwirkung des Anwalts oder andere Gesetze die Tätigkeit des Notars vorschreiben, da ist für den Rechtsrat von anderer Seite kein Bedürfnis und kein Raum innerhalb dei Justiz. Indessen ist dieser Bezirk deutlich abgegrenzt, und ausserhalb sollte umgekehrt der Gegenpartei eines vom Anwalt oder anderen Berufsjuristen Beratenen das Gegengewicht eines öffentlichen Rechtsrats zur Verfügung stehen.

Nicht empfehlenswert scheint dagegen die z. Z. in England in Verbindung mit dem Präjudiziensystem gebräuchliche Aufstellung von Versuchsfällen (test cases) zur Entscheidung einer für die Allgemeinheit wichtigen Rechtsfrage im Scheinprozess.

8. Die Frage der Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte ist, nachdem sie lange Zeit geruht hatte, verschiedentlich neuerdings zu praktischer Bedeutung gelangt. Dass die Garantien, die das G.V.G. gibt und somit von Reichs wegen gegen die einzelnen Justizverwaltungen stabiliert, für sich allein nicht ausreichen, um die Unabhängigkeit der Richter im richtigen Sinn zu schützen, ist bei der komplizierten Natur dessen, was man eben unter dieser Unabhängigkeit zu verstehen hat, selbstverständlich. Drei besondere Sicherungen jener allgemeineren Bürgschaften sind, ihrer Wichtigkeit wegen, und weil sich bei ihnen Konflikte ergeben haben, hier anzuführen. Einmal die Regelung des sog. Kompetenzkonflikts in der Weise, dass den ordentlichen Gerichten nicht nur auf dem Papier des G.V.G., sondern in Wirklichkeit die bindende Entscheidung über ihre Jurisdiktion gegenüber der Verwaltung gegeben und besonders die Rechtskraft eines Urteils, das die Zulässigkeit des Rechtswegs bejaht, gegenüber der unzulässigen Bezweiflung durch Verwaltungsinstanzen des Inlands oder des Auslands vom Staat wie ein Stück seiner eigenen Ehre verteidigt wird. Zweitens dass die ordentlichen Gerichte da, wo ihnen im Prozess die Wahrheitsprüfung zum Richteramt zugewiesen ist, an die Entscheidungen anderer Behörden über Präjudizialfragen auch des öffentlichen Rechts nicht gebunden sind – dies natürlich mit der Bedeutung, dass unter den Handlungen der anderen Behörden die Verfügungen konstitutiven Inhalts von den Entscheidungen deklaratorischer Art zu trennen sind und nur gegenüber den letzteren den Gerichten die Freiheit der eigenen Ermittlung und Prüfung gewahrt wird. Schliesslich ist als Ergänzung der persönlichen Unabhängigkeitsgarantien für den Richter darauf zu achten, dass sein Amt ihm zur ausschliesslichen Aufgabe im Staatsdienst wird; zu vermeiden wäre also ebenso die Bestellung von Verwaltungsbeamten oder Beamten des Unterrichtswesens zu Richtern im Nebenamt wie umgekehrt die nebenamtliche Beschäftigung der Richter in Funktionen, die unter der gewöhnlichen Beamtendisziplin stehen müssen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/357&oldid=- (Version vom 7.8.2021)