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9. Im Ausland wird mehrfach vom Richter politische Neutralität verlangt, während in Deutschland die Aktivität höherer Richter im Parteileben und ihre Wahl zu den Parlamenten nichts ungewöhnliches ist. Das englische Beispiel jenes Neutralitätssystems kann nicht zur Nachahmung aneifern, wenn man es nach seinen Früchten beurteilt, denn einerseits ist gerade in England die Mehrzahl der Richter vor ihrer Ernennung politisch, häufig im Parlament selbst, tätig gewesen, wodurch der Verdacht parteipolitischer Motive für die Ernennung und das Bestreben eifriger Parteileute, Einfluss auf die Ernennungen zu bekommen, nie ganz zum Einschlafen kommen kann; andererseits scheitert die Durchführung des Systems im Oberhaus, da hier die höchsten Richter des Landes wieder an den politischen Debatten oder wenigstens an den Abstimmungen über rein politische Fragen teilnehmen.

In den deutschen Staaten, die eine erste Kammer besitzen, ist die Ernennung eines oder mehrerer Höchstrichter des Landes durch den Landesherrn zum Mitglied dieser Kammer üblich. Zu wünschen wäre, dass solche Mitgliedschaft überall ex officio einträte, wie es die neue Verfassung für Elsass-Lothringen im § 6 I verordnet. Die Ernennung verletzt gewiss die Unabhängigkeit des Richters an sich noch nicht. Unterbleibt sie aber, der Regel zuwider, in einem Fall, so ist damit eine Kritik des Souverains und der seine Wahl bestimmenden Regierung nicht nur an der Einzelperson, sondern am Amt selbst geübt und das Ansehen des Standes geschädigt, da ja natürlich die Nichternennung auf keinen Fall würde bedeuten können oder sollen, dass nun der Übergangene auch sein Richteramt verlasse und damit dem Chef der Justizverwaltung die Möglichkeit der Ernennung eines politisch genehmeren Richters auf den freien Posten gewährt werde. Für das Reich ist, solange ihm die erste Kammer fehlt, durch eine staatsrechtlich-gesetzlich geregelte Form der Mitwirkung und jedenfalls des Beirats einer Gruppe von Höchstrichtern bei der Schaffung von Justizgesetzen ein Ersatz zu suchen.

10. Im allgemeinen Prozessrecht steht mit der Gerichtsverfassung im nächsten Zusammenhang die Sicherung der Einheitlichkeit oder wie man häufiger kurz und hyperbolisch sagt: Einheit der Rechtsprechung. Dass sie höchst wünschenswert ist, daran zweifelt niemand. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass neuerdings häufig einer drängenden Prozessreform die durch sie drohende Gefährdung der einheitlichen Rechtsprechung so summarisch entgegengehalten worden ist, als sei die Einheit schlechthin das höchste Gut der guten Justiz und deshalb inkommensurabel. Demgegenüber ist in meinem Wiener Vortrag über das Thema (Österr. Zentralbl. f. d. jur. Praxis 29, 1 ff) der Versuch unternommen, sie unter die übrigen Grundsätze des Prozessrechts zurückzustellen und vor allen Dingen dem Schlagwort einer angeblich vorhandenen und gefährdeten Einheit der Rechtsprechung im deutschen Prozess das Bild der Wirklichkeit entgegenzustellen. Sichern lässt sich die Einheit nur durch das Präjudiziensystem oder durch die straffe Zentralisierung der Gerichtsverfassung in einem Hochgericht. Beides ist dem geltenden deutschen Prozessrecht gleich fremd. Die Wirkung, die wir den endgültigen Urteilen der Zivilrechte geben, ist streng auf den entschiedenen Fall beschränkt; das ergibt sich mit Notwendigkeit aus der Natur des Verfahrens mit seiner weitgehenden Freilassung der Parteidisposition. In der Praxis ist ein Gegengewicht gegen eine zu starke Partikularisierung der Rechtsprechung dadurch geschaffen, dass nicht nur die wichtigeren Entscheidungen der höheren Gerichte, und zwar neuerdings mehr und mehr, publiziert und in handlichen Sammlungen jeder Gerichtsbibliotliek einverleibt werden, sondern dass auch die Kommentare zur Prozessordnung, denen vielfach fast die Autorität authentischer Gesetzesauslegung in der Praxis eingeräumt wird, ihrerseits auf dem genausten Studium der Judikatur beruhen, wo sie nicht gar, auf eigene Ansichten der Verfassers verzichtend, nur Repertorien für die Präjudizien der höchsten Gerichte sind. Dieses heimliche Präjudiziensystem ist deshalb nicht unbedenklich, weil es, ähnlich wie die amerikanischen Repertorien und Enzyklopädien, mit Rechtspräjudizien arbeiten muss, die, von dem Fall losgelöst, aus dem sie ursprünglich erwachsen waren, ganz wie Sätze der lex scripta wirken. Soll aber das Präjudiziensystem überhaupt gegenüber dem Kodifikationssystem Vorzüge seiner Eigenart haben, so könnten sie nur darin bestehen, dass beim ersteren der Einzelfall in seiner Eigentümlichkeit stärkere Beachtung finden kann, weil der Richter vor der Befolgung des im Präjudiz enthaltenen Rechtssatzes genau zu prüfen hat, ob sein jetzt zu entscheidender Fall im Tatbestand

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/358&oldid=- (Version vom 7.8.2021)