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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

anhalten; sie hätte aber das Bedenkliche, dass besonders bei vorgeschrittenem Prozess, gar in der Rechtsmittelinstanz die geleistete Arbeit verloren ginge und auf die neu angestellte Klage von neuem geleistet werden müsste, sodass auch dieses IMittel zwar da, wo es präventiv wäre, gut wirken könnte; da aber, wo es versagt, das Übel der Zeitvergeudung eher steigern könnte. Deshalb ist Abweisung des säumigen oder nicht verhandelnden Klägers, auch ohne Antrag des Beklagten, durch Sachurteil zu fordern, und dagegen nur der Rechtsbehelf eines formell streng gefassten Einspruchs an das Urteilsgcricht zuzulassen.

16. Das Mass der Urteilswirkung ist natürlich bestimmt durch das Mass der Parteidisposition über den Prozessstoff (subjektive Grenzen) und durch die Beschränkung der Entscheidungsgewalt des Gerichts auf die von der Partei erhobenen Ansprüche (strenge Klagform, Unzulässigkeit der Klageänderung, Inzidentfeststellungsklage, für die Berufungsinstanz §§ 525, 526, 536, 537 Z.P.O. ; objektive Grenzen). Jedoch bricht sich mehr und mehr die Meinung Bahn, dass die Rechtskraftwirkung des Urteils eine öffentlich-rechtlich-prozessuale ist (was mit der Bestimmung ihres Masses durch die Regelung des Prozessrechtsverhältnisses, der Machtverteilung unter die Prozesssubjekte in der Prozessordnung durchaus verträglich ist), die nicht primär nur die Parteien des Prozesses und erst durch eine von ihnen erhobene „Einrede“ auch ein später mit der Sache befasstes Gericht bindet, sondern unmittelbar die Gerichte desgleichen Staats (soweit eine Arbeitsgemeinschaft mit dem Ausland besteht, auch die Gerichte der Konventionsstaaten) angeht und von ihnen kraft Amts beachtet werden muss.

17. Die Zwangsvollstreckung steht durchaus unter dem Zeichen möglichst unmittelbarer, den Schuldner im übrigen schonender Verwirklichung des Gläubigerrechts und verwendet nur im Notfall noch die alten Mittel indirekten Zwangs gegen den Schuldner. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der noch mit Rechtsmitteln und Einspruch angreifbaren Entscheidungen wird immer mehr ausgedehnt. Durchaus sinnwidrig hat aber die Novelle von 1909 auch in den Fällen, in denen der Entscheidung aus prozessualen Gründen gegenüber dem Schuldner die besondere Schärfe einer von Amtswegen auszusprechenden vorläufigen Vollstreckbarkeit gegeben wird, dem Gläubiger eine besondere zivilistische Schadenshaftung beim nachträglichen Umfall seines Titels aufgebürdet (Z.P.O. 717 Abs. 2, mit der einen Ausnahme des § 703 Ziffer 7, die den richtigen Weg andeutet). – Für das Vollstreckungsrecht gilt ganz besonders die früher aufgestellte Forderung an das Gesetz, dass es die Möglichkeiten der Heilung und des Angriffs auf fehlerhafte Handlungen der gerichtlichen Organe und der Partei selbst genau bezeichne.

18. Der Gedanke einer internationalen Urteils- und Vollstreckungsgemeinschaft hat neuerdings manche Förderung erfahren. Die Haager Konvention von 1905 hat gegenüber ihrer Vorläuferin von 1897 vor allem in der Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidungen ohne Geleiturteil einen Fortschritt gebracht, an dem nun weiter zu arbeiten ist. Im allgemeinen ist die Gemeinschaft dann durch die Rechtshilfe-Konferenz in Wien 1909/10 für Deutschland und Österreich-Ungarn nach der rechtlichen wie nach der wirtschaftlichen Seite hin eingehend erörtert und in manchen Punkten warm befürwortet worden; dabei hat sich gezeigt, dass durch solche ins einzelne gehende Verhandlungen zwischen zwei Rechtsgebieten auf Grund genauer Kenntnis ihres positiven Rechts mehr zu erreichen ist, als durch breitere und weniger vom geltenden Recht und seinen notwendigen Verschiedenheiten ausgehende Bestrebungen. An die deutsch-österreichische Fühlung sollte sich binnen kurzem eine deutsch-schweizerische, deutsch-holländische und deutsch-französische anschliessen.

19. Die Justizstatistik (für das Reich nach dem Stand vom 1. Januar 1912, für Bayern mit den Ergebnissen von 1912) zeigt eine ziemlich gleichmässige, der Bevölkerungszunahme annähernd entsprechende Vermehrung der Zahl der Prozesse, der Anwälte, der Richter. Die Richter sind von rund 7000 im Jahr 1883 auf wenig über 10 000, die Anwälte von rund 4100 im Jahr 1880 jetzt auf rund 12 300 gekommen, wobei in den letzten vier Jahren die Zunahme besonders stark war; die Zahl der vermögensrechtlichen Sachen (Mahnsachen, ordentliche Prozesse, Urkundenprozesse) ist von 3 325 652 im Jahr 1881 auf 5 694 690 im Jahr 1911 gestiegen; auch hier ist die Zunahme seit 1905 stetig und in den letzten vier Berichtsjahren besonders stark,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/363&oldid=- (Version vom 7.8.2021)