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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Auswahl der Rechtssachen. Die bei den Amtsgerichten anhängigen bürgerlichen Prozesse enden mit der Entscheidung der Landgerichte auf die eingewendete Berufung. Das Bedürfnis der Begrenzung tritt gebieterisch auf bei den von den Oberlandesgerichten auf Berufung gefällten Endurteilen. Ein grösserer Staat vermag hier nicht die Oberberufung zu gewähren, nämlich die Prüfung von Rechts- und Tatfrage, sondern er muss sich auf ein Rechtsmittel beschränken, welches nur die Prüfung der Rechtsfrage zulässt, die Nichtigkeitsbeschwerde oder nach der deutschen Zivilprozessordnung die Revision. Die Unterscheidung nach Faktum und Jus ist alt und schon von den römischen Juristen gehandhabt, der Versuch einer Trennung von Tat- und Rechtsfrage in ihrer formalistischen Durchbildung und mit ihren juristischen Folgerungen ist ein Ergebnis französischer Doktrin und Praxis bei Kassation und Schwurgericht. Die Kassation ist bei der Gestaltung des auf die Rechtsfrage beschränkten Rechtsmittels im deutschen Zivilprozess nur bis zu einem gewissen Grade das Vorbild gewesen. Man hat den Ausdruck , „Nichtigkeitsbeschwerde“ vermieden, „weil er zu sehr an den Kassationsrekurs des französischen Rechts erinnerte, mit diesem aber der Sache und den Formen nach vollständig gebrochen werden sollte“. Die Revision wurde „als eine frei gestaltete revisio in jure konstruiert“, sie sollte als „beschränkte Berufung“, nicht als „erweiterte Nichtigkeitsbeschwerde“ aufgefasst werden.

Mit dieser freieren Gestaltung war auch die freiere Handhabung durch den Gerichtshof notwendig gegeben. Das Auseinanderhalten von tatsächlicher Feststellung und rechtlicher Erwägung, welches im französischen Prozess durch die Bearbeitung des tatsächlichen Teils des Urteils seitens der Anwälte erleichtert wird, hat sich in der deutschen Praxis und Wissenschaft nicht in dem erwarteten Masse durchführen lassen. In dem begrifflichen Erfassen tatsächlicher Vorgänge liegt vielfach ein Element rechtlicher Erwägung. So hat die Begrenzung der Revision unter den Zivilsenaten des Reichsgerichts zu verschiedener Auffassung geführt, Mitglieder der Oberlandesgerichte haben über „Eingriffe des Reichsgerichts in die Beurteilung der Tatfrage“ lebhaft geklagt. Jedenfalls hat die freiere Handhabung der „beschränkten Berufung“ dazu beigetragen, dass dies Rechtsmittel auch in Fällen eingelegt wurde, wo eine strengere Auffassung das Urteil als nur auf tatsächliche Erwägung gegründet ansehen konnte. Die auf diesem Gesichtspunkt beruhende Beschränkung des Rechtsmittels hat danach nicht so vollkommen gewirkt, wie erwartet wurde, und es ist nicht anzunehmen, dass man sich jemals zu der formalistischen Handhabung entschliessen wird, bei der die volle Wirkung der Beschränkung eintreten würde; der 1910 gemachte Versuch einer grösseren Sicherstellung der tatsächlichen Feststellungen der Instanzgerichte gegen Revisionsangriffe durch gesetzliche Vorschriften ist, abgesehen von dem neuen § 561, Absatz 2, vom Reichstag abgelehnt worden. Vereinzelte Stimmen haben wegen dieser Unsicherheit der Scheidung die Beschränkung auf die Prüfung der Rechtsfrage aufheben und dem Reichsgericht auch die Beurteilung der Tatfragen überweisen wollen. Die neue ungarische Zivilprozessordnung hat sich auf diesen Standpunkt gestellt. Für das Deutsche Reich dürfte sich jedoch der Schritt nicht empfehlen, nicht bloss, weil die Zahl der Revisionen stark zunehmen würde, sondern auch, weil bei der tatsächlichen Prüfung die Vorinstanzen in einer vorteilhafteren Lage sind, als das Reichsgericht. Es lässt sich freilich nicht verkennen, dass oberlandesgerichtliche Urteile zuweilen gerade in tatsächlicher Hinsicht zu lebhaftem Widerspruch herausfordern; aber eine so eingreifende Massregel würde nur bei einer völligen prinzipiellen Umgestaltung des Rechtsmittels sich rechtfertigen lassen. Zurzeit werden nicht bloss viele Revisionen zurückgewiesen, weil die Urteile auf tatsächlicher Erwägung beruhen und einen Rechtsirrtum nicht erkennen lassen, sondern es wird auch in unbestreitbar so gearteten Fällen das Rechtsmittel gar nicht eingewendet. Welchen Prozentsatz diese letzteren Fälle ausmachen, lässt sich nicht berechnen.

Unzweifelhaft ist noch eine weitere Einschränkung der Zulässigkeit des Rechtsmittels nötig. Der dem Reichstag vorgelegte Entwurf der Zivilprozessordnung beschränkte den Zutritt zu dem höchsten Gerichte durch das Erfordernis der Difformität der Vorentscheidungen. Der Reichstag nahm in den Jahren 1875 und 1870 diese Beschränkung nicht an, sondern ersetzte sie durch die Einführung einer Revisionssumme von 1500 Mark. Damit geschah ein tiefer Eingriff in das Wesen des geplanten Prozesses, eine prinzipielle Abweichung von der ursprünglich beabsichtigten Begrenzung des Arbeitsstoffes für den obersten Gerichtshof. Was vorauszusehen war und vorausgesehen wurde,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/366&oldid=- (Version vom 13.8.2021)