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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

dass die Revisionssumme öfter erhöht werden müsse, ist nur zu bald eingetreten. 1905 setzte man die Revisionssumme auf 2500 Mark fest, der Vorschlag der Regierung, bei sententiae difformes 2000 Mark, bei sententiae conformes 3000 Mark, anzunehmen, wurde abgelehnt. 1910 haben die schweren Bedenken, die gegen eine weitere Erhöhung der Revisionssumme bestehen, die Regierungen veranlasst, als Hauptmittel der Entlastung des Reichsgerichts unter Aufrechterhaltung der bestehenden Revisionssumme nochmals die Einführung des Difformitätsprinzips, d. h. den Ausschluss der Revision bei konformen Entscheidungen vorzuschlagen. Aus theoretischen, praktisch unerprobten Bedenken ist dies Prinzip wiederum vom Reichstag verworfen und dafür die Erhöhung der Revisionssumme auf 4000 Mark beschlossen worden.

Unterstützend soll daneben auf Verringerung der Arbeitslast einwirken die Beseitigung der Beschwerdeinstanz, auf die Verminderung der Revisionen der Ausschluss der Revision bei Arresten und einstweiligen Verfügungen, die vorläufige Vollstreckbarkeit der Urteile der Oberlandesgerichte sowie die Erhöhung der Gerichts- und Anwaltskosten nebst Einziehung eines Kostenvorschusses.

Zudem sind zur Aufarbeitung der Prozesse 11 Hilfsrichter bestellt worden. Neue Senate hat man nicht gebildet, die Hilfsrichter wurden vielmehr zur Verstärkung der sieben Zivilsenate verwandt, die alle 14 Tage neben den beiden in der Woche stattfindenden Sitzungen eine dritte unter dem Vorsitz des ältesten Rates abhalten.

Die Wirkung der Reform lässt sich schon jetzt übersehen. Das Gesetz vom 22. Mai 1910 betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts ist am 1. Juli 1910 in Kraft getreten. Vom Januar bis Juni 1910 wurden 2677 Revisionen eingelegt, vom Juli bis Dezember 1667. Nur für diese letzte Hälfte des Jahres wirkte das erwähnte Gesetz. Statt der 4595 Revisionen des Jahres 1909 finden wir 4314 des Jahres 1910, also 251 weniger. 1911 hat sich die Zahl der eingewendeten Rechtsmittel um weitere 813 gegenüber der von 1910 verringert, sie beträgt 3531.[1] Auf einen weiteren Rückgang ist nicht zu rechnen, die Vermehrung der Bevölkerung und Ausdehnung der Tätigkeit von Gewerbe, Industrie und Handel werden vielmehr wieder eine jährliche Steigerung der Ziffer im Gefolge haben. Dann ist eine Verminderung der Zahl der Zivilrichter nicht möglich. Was einsichtige Beurteiler voraussahen, dass die Erhöhung der Revisionssumme nicht den erwarteten und nur einen auf kurze Zeit wirkenden Erfolg haben werde, ist eingetreten. Die Ablehnung der Regierungsvorlage erweist sich als ein bedauerlicher Missgriff. Hinsichtlich der Strafsenate schwebt die Reform der Strafprozessordnung. Wird sie weiter hinausgeschoben oder führt sie zu keiner Veränderung, so wird eine schon jetzt zu spürende Vermehrung der Revisionen in Strafsachen voraussichtlich in einigen Jahren zur Errichtung eines sechsten Strafsenats führen.[2] Man wird also zu einer geringeren Zahl als 100 Mitglieder des Gerichts schwerlich wieder gelangen, auch wenn es möglich würde, mit der abgelaufenen Zeit auf die Mitwirkung der Hilfsrichter zu verzichten. Es bleibt voraussichtlich ein Zustand bestehen, den die Begründung des Entwurfs der Zivilprozessordnung „als Unmöglichkeit oder doch als eine fehlsame Institution“ bezeichnete,[3] ein Urteil, welches auch in den Motiven der Novelle von 1910 aufrecht erhalten wurde.

Das schwerste Bedenken gegen das Difformitätsprinzip ist darin gefunden worden, dass sich ein Rechtspartikularismus, eine Sonderrechtsprechung in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken geltend machen werde. Die Regierungen wollten dem dadurch entgegenwirken, dass die Revision


  1. Es kommen immer noch etwa 500 Rechtssachen auf jeden Zivilsenat im Jahr. Der Erfolg, dass die Termine nicht mehr so weit hinaus angesetzt zu werden brauchen, ist nicht gleichmässig eingetreten. Am Ende des Jahres 1911 hat der I. Zivilsenat seine Termine angesetzt im Oktober 1912, der II. im März. der III. im Juni, der IV. im Mai, der V. im März, der VI. im Juni, der VII. im März. Die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Erhöhung der Kosten scheinen nahezu wirkungslos geblieben zu sein. Eine stärkere von der Einlegung des Rechtsmittels zurückhaltende Wirkung übt der auferlegte Kostenvorschuss. Wegen nicht geleisteten Kostenvorschusses sind 1911 70 Revisionen zurückgewiesen worden.
  2. Beschleunigt wird dies durch die ganz ungewöhnliche Vermehrung der Fälle des Verrats militärischer Geheimnisse, deren jeder drei Strafsenate beschäftigt. Möchte in dieser Hinsicht doch eine Entlastung durch Verweisung unbedeutender Fälle an andere Gerichte und durch Besetzung des verhandelnden Gerichts mit nur einem Senat bewirkt werden.
  3. Hahn, Die gesamten Materialien zur Zivilprozessordnung. 1. Abt. S. 143.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/367&oldid=- (Version vom 13.8.2021)