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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

bei konformen Entscheidungen für solche Fälle gegeben sein sollte, in denen das Berufungsurteil auf der Auslegung eines Gesetzes beruht, die mit einer früheren Entscheidung des Reichsgerichts oder eines Obersten Landesgerichts in Widerspruch steht. Die Geltendmachung eines solchen Widerspruchs sollte dem Privatinteresse der Partei überlassen bleiben. Sehr allgemein wendete man dagegen ein, dass dadurch ein starker Anreiz zur Formulierung von Rechtssätzen aus Urteilen, welche nur den einzelnen Fall zu entscheiden bestimmt sind, gegeben sei und die Verstärkung des Präjudizienunwesens daraus hervorgehen werde. Jedenfalls würde eine grosse Anzahl von Revisionen mit einer auf jene Ausnahme hinzielenden Begründung eingewendet werden. Meines Erachtens wäre der Vorschlag der Regierungen annehmbar gewesen, wenn die Formulierung von Rechtssätzen aus den Urteilen ausschliesslich dem erkennenden Senat überlassen bliebe. Es wäre die einstige Gepflogenheit des Reichsgerichts, in dazu geeigneten Rechtsfällen kurze Rechtssätze oder Grundsätze – ähnlich wie die vom Plenum entschiedenen Rechtsfragen – aufzustellen und als „Notizen“ unter den Senaten des Reichsgerichts auszutauschen, wieder aufzunehmen gewesen. Durch Veröffentlichung hätte man ihnen eine grössere Verbreitung geben müssen. Nur das Abweichen von diesen Sätzen dürfte als Revisionsgrund gelten. So würde das Reichsgericht selbst den prinzipiellen Teil seiner Rechtsprechung von dem mehr zufälligen, in seiner Wirkung auf den einzelnen Fall beschränkten scheiden. Oder die Prüfung des Widerspruchs hätte nur aus öffentlichem Interesse durch eine öffentliche Behörde geschehen dürfen. Von anderer Seite ist zur Verminderung der Bedenken gegen das Difformitätsprinzip die Zulassung der Revision trotz konformer Entscheidungen bei einer Revisionssumme von 5000 bis 10 000 Mark vorgeschlagen worden.[1]

Die frühere praktische Betätigung des Difformitätsprinzips in Ländern des jetzigen Deutschen Reichs (bei der preussischen Revision und im hamburgischen, badischen und braunschweigischen Prozess) ist eine zu beschränkte gewesen, um daraus Gründe für oder gegen seine Einführung zu entnehmen. Wichtiger ist die längere Geltung des Grundsatzes in Österreich. Hier wird er auch bei der jetzt noch schwebenden Reform des Rechtsmittels der Revision seine Mitwirkung bei der Begrenzung behaupten. Die österreichische Regierung hat vorgeschlagen, die Revisionen gegen gleichlautende Zivilurteile nur dann zuzulassen, wenn die Revisionssumme in bezirksgerichtlichen Rechtssachen 1000 Kronen, in Gerichtshofssachen 2000 Kronen überstiege. Das Herrenhaus hat statt dessen die Unzulässigkeit von Revisionen gegen bestätigende Berufungsurteile in allen bezirksgerichtlichen Rechtssachen ferner in Wechsel- und Scheckprozessen bis einschliesslich 1000 Kronen beschlossen.[2]

Die Einheit der Rechtsprechung ist ein Grundsatz, der nicht ohne Begrenzung und verständige Abwägung geltend gemacht werden kann. Die Fülle des individuellen Rechtslebens soll durch ihn nicht eingeengt werden, die Entscheidungen dürfen nicht dem Schematismus verfallen. Aber die Sicherheit des Rechtsverkehrs und das Ansehen der Gerichte beeinträchtigende Widersprüche sollen verringert und womöglich ausgeschlossen werden. Die zahlreichen Klagen in der Literatur über widersprechende Urteile betreffen vorzugsweise die Rechtsprechung des Reichsgerichts. Diese unterscheidet sich durch den präjudiziellen Charakter vieler ihrer Urteile wesentlich von der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte. Auch da, wo diese in letzter Instanz Recht sprechen, können ihre Urteile nicht die vorbildliche und massgebende Bedeutung gewinnen wie die des Reichsgerichts; sie können „endgültige Rechtssätze“ nicht aufstellen. Erst in der obersten Instanz tritt das Bedürfnis einheitlicher Rechtsprechung zwingend hervor. Die Bedingungen für diese herzustellen und aufrechtzuerhalten ist daher von besonderer Wichtigkeit.

Die Begrenzung des Arbeitsstoffs des Reichsgerichts durch die Erhöhung der Revisionssumme behandelt völlig ungleich Sachen, die sich in Geld schätzen lassen und solche, bei denen dies ausgeschlossen ist; sie beruht auf einem völlig äusserlichen Gesichtspunkt. Das Difformitätsprinzip legt dagegen der Übereinstimmung zweier Instanzen im Ergebnis, wenn auch aus verschiedenen


  1. Düringer, Richter und Rechtsprechung. Leipzig 1909. S. 58–59. Derselbe: Zum Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung des Reichsgerichts. Deutsche Juristen-Zeitung. XV. Jahrg., S. 331.
  2. Die Bedeutung des Difformitätsprinzips im österreichischen Prozess ist gründlich erörtert von Ott a. a. O. S. 57 ff. Vergl. auch: Leonhard. Die Einschränkung des Rechtsmittelzuges im österr. Zivilprozesse. Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich. 1912 S. 13 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/368&oldid=- (Version vom 14.8.2021)