Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/369

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Gründen, eine innere, moralische Bedeutung bei, welche schwerer wiegt, als die Abschätzung in Geld mit ihrem rein zufälligen und leicht beeinflussbaren Charakter. Gewiss wird unter Umständen durch den Ausschluss der Revision bei gleichlautenden Entscheidungen ein maasgebendes und bedeutsames Eingreifen des Reichsgerichts verhindert. Aber das ist auch der Fall in den Rechtssachen mit einer Beschwerdesumme zwischen 2500 und 4000 Mark. Bei dem Difformitätsprinzip führt die Differenz der beiden Instanzen in diesen Fällen die Zulässigkeit der Revision herbei, die jetzt überhaupt ausgeschlossen ist. Es ist auch nicht zu verkennen, dass durch die Erhöhung der Revisionssumme ganze Rechtsgebiete, bei denen die Streitobjekte nicht so hoch bewertet werden können, der einheitlichen Regelung durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts in einem viel höheren Grade entzogen werden, als durch den Ausschluss des Rechtsmittels bei konformen Entscheidungen mit den obenerwähnten Kautelen.

Wie das Difformitätsprinzip auf die praktische Tätigkeit der Oberlandesgerichte einwirken würde, ist sehr verschieden beurteilt worden. Ich glaube, dass die vermehrte Selbständigkeit nicht zu einer oberflächlicheren, sondern zu einer gründlicheren Bearbeitung der nicht revisiblen Entscheidungen und damit zu einer Stärkung und Hebung der Oberlandesgerichte sowie zu einem grösseren Interesse der Regierungen für ihre Förderung und gute Besetzung geführt hätte.[1]

Wiederholt ist bei der Beratung der Prozessnovelle von 1910 betont worden, dass als wirksame Mittel der Entlastung, falls man nicht Senate und Mitglieder des Reichsgerichts dauernd vermehren will, nur Difformitätsprinzip und Erhöhung der Revisionssumme in Betracht kommen. Auf die anderweit vorgeschlagenen Hilfsmittel möge daher hier nur kurz hingewiesen sein.

Da nur etwa ein Fünftel der eingewendeten Revisionen von Erfolg ist, liegt die Erwägung nahe, dass bei einem Teile der erfolglosen vier Fünftel die Erfolglosigkeit mit einer annähernden Sicherheit hätte vorausgesehen werden können. Der Wunsch, dass die Rechtsanwaltschaft am Reichsgericht strenger in der Auswahl der zur Revision geeigneten Rechtssachen verfahre, ist von ihr nicht leicht zu erfüllen, nicht sowohl weil die Rechtsanwälte erster und zweiter Instanz mit der beschränkenden Handhabung der Revision durch die absichtlich in begrenzter Anzahl gehaltene Rechtsanwaltschaft am Reichsgerichte aufs äusserste unzufrieden sind, sondern weil die Erfolglosigkeit bei der verschiedenen Praxis der Senate nicht sicher beurteilt werden kann Sehr eingreifend ist, dass Personen in verantwortlicher Stellung, wie Vorstände von Korporationen usw. zu ihrer Entlastung die Durchführung des Prozesses bis zur letzten möglichen Instanz nötig haben. Hierin eine praktische Änderung eintreten zu lassen, ist sehr schwer. Zu dem vorgeschlagenen allgemeinen oder nur fakultativen Ausschluss der mündlichen Verhandlung vor dem Reichsgericht – der letztere war im Entwurf der Novelle von 1910 vorgesehen – hat man sich nicht entschliessen können, weil der lebendige mündliche Vortrag von beiden Parteien zur raschen Erfassung der Prozesslage und zur Würdigung aller rechtlichen Gesichtspunkte vorteilhafter erscheint, als der Vortrag durch einen Referenten. Die Vorprüfung der Revisionen kann von wesentlichem Vorteil für die Entlastung nur dann sein, wenn sie nicht durch den Senat geschieht, sondern nur durch ein oder zwei Mitglieder. Dem Bedenken, dass dann nicht ein Spruch des Gerichts vorliegt, ist eine entscheidende Bedeutung nicht beizulegen. Jedenfalls würde diese Vorprüfung wirksamer sein, als die zurzeit durch die Rechtsanwaltschaft ausgeübte; bei dieser wiegt zudem das erwähnte Bedenken noch schwerer. Die Ablehnung der Einlegung der Revision durch die Rechtsanwälte am Reichsgericht wird zuweilen als eine Härte empfunden, bei der die rechtfertigende Autorität vermisst wird. Die Vorprüfung durch Mitglieder des Gerichts hat innerhalb des Gerichtshofes selbst entschiedene Befürworter.[2] Der Einwand, dass sie dem Prinzip der Mündlichkeit widerspreche, ist als rein theoretisch nicht ausschlaggebend; die Tragweite des Hilfsmittels ist jedoch ohne praktische Erprobung schwer zu übersehen. Würde seine Einführung die Zahl der zur Beratung und Entscheidung durch das Gericht gelangenden Revisionen verringern, so wird sie andererseits die der eingelegten Rechtsmittel doch wohl vermehren. Die von vereinzelter Stimme[3] befürworteten


  1. Weitere Ausführungen über das Difformitätsprinzip s. in Schulz, Der Kampf S. 33 ff.
  2. Hagens. Die Entlastung des Reichsgerichts, D. Jur. Zeit. 1909 S. 1110 ff. Krantz a. a. O. S. 33 ff.
  3. Peters a. a. O. S. 112 ff. Übrigens stellt die 1910 erfolgte Erhöhung der Gerichts- und Anwaltskosten bereite eine ganz gehörige Sukkumbenzstrafe dar.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/369&oldid=- (Version vom 14.8.2021)