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Einschlag ist verstärkt worden. Als dauernde Einrichtung wird man die Verstärkung der Senate, sei es auch nur um 2 Mitglieder, und den Wechsel des Vorsitzes nicht beibehalten wollen.

Das Difformitätsprinzip vermag ich nicht für erledigt und dauernd beseitigt zu halten. Ich verkenne jedoch nicht, dass nur geringe Aussicht besteht, es im Reichstage durchzusetzen und zu einer praktischen Erfahrung über seine Wirkung zu gelangen.

In Erwägung zu ziehen ist der Verzicht auf die „freiere Gestaltung“ der revisio in jure, mit anderen Worten die Annäherung an den formalen Charakter der Kassation oder auch der preussischen Nichtigkeitsbeschwerde. Sieht man darin eine Unterbindung der besten Kraft des Reichsgerichts, so werden wieder alle bisher erörterten Mittel der Abhilfe, nämlich die weitere Erhöhung der Revisionssumme, Difformitätsprinzip, Vorprüfung, völlige oder fakultative Beseitigung der mündlichen Verhandlung, Ausscheiden landesrechtlicher Rechtssachen, Herabsetzung der Mitgliederzahl der Senate, Sukkumbenzstrafen und schliesslich auch die Vermehrung der Senate und die Beschränkung des Plenum auf die zwei dissentierenden Senate von den einen vorgeschlagen, von den anderen bekämpft werden. Ich möchte annehmen, dass die Wurzel dieses Zwiespaltes der Meinungen der unausgeglichene Gegensatz der Anschauungen über den eigentlichen Zweck der dritten Instanz ist. Soll sie dem Privatinteresse des Einzelnen, dem Ringen um sein Recht oder dem öffentlichen Zweck der einheitlichen Rechtsprechung und der Fortbildung des Rechts dienen? Das letztere haben die Regierungen und einflussreiche Vertreter von Wissenschaft und Praxis wiederholt und mit aller Schärfe betont, aber immer wieder hat der erstere Gesichtspunkt im Reichstag und namentlich bei der zur Verfolgung des Parteiinteresses berufenen Rechtsanwaltschaft eifrigste Vertretung gefunden. Stimmen der Wissenschaft haben gesagt: „Die Revision ist nur gegen solche Entscheidungen zulässig, welche gleichzeitig das Interesse der Partei an einem gerechten Rechtsschutz im Einzelfall wie das Interesse der Gesamtheit an einer einheitlichen Rechtsprechung des Gerichts in allen Fällen gefährden. Wo nur das eine Interesse ohne das andere verletzt ist, entfällt der Grund der Revision.“[1] Oder: „Das Privatinteresse ist bei der Revision das Vehikel des öffentlichen Interesses.“ Leider haben die Ausgestaltung des Rechtsmittels und die ihm gesetzten Beschränkungen dieses Ziel durchaus nicht erreicht. Tatsächlich bestimmt zurzeit das Privatinteresse die Einlegung der Revision. Ob eine andere Entscheidung des Prozesses als die der zweiten Instanz im öffentlichen Interesse liegt, ob die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sie erfordert oder eine zweckmässige Fortbildung des Rechts – das alles wird nicht geprüft und von der Partei niemals erwogen. [2] So gelangt eine Fülle von Rechtssachen an den Gerichtshof, deren Entscheidung für dessen höheren Zweck völlig gleichgültig ist. Das Reichsgericht muss zu viel für seine wichtigere Bestimmung völlig unnütze Arbeit leisten. Das Privatinteresse bei der Einlegung der Revision erdrückt das öffentliche Interesse.

Die wichtigste Frage für die künftige Gestaltung des Rechtsmittels dürfte daher sein: Auf welche Weise könnte dem öffentlichen Interesse ein stärkerer Einfluss auf die Einlegung des Rechtsmittels verschafft werden?[3]


  1. Schmidt, Lehrbuch des Zivilprozessrechts. 2. Aufl. S. 797.
  2. Junck in einer im Reichstag am 14. April 1910 gehaltenen Rede. Stenographische Berichte S. 2359 D. Junck behauptet, die Partei werde es nicht verstehen, dass ihr die Revision versagt sei, weil die Entscheidung ihres Prozesses nicht zur Erhaltung der Rechtseinheit nötig sei. Zugegeben. Nur wird die Partei es ebenso wenig verstehen, wenn der Rechtsanwalt die Einlegung der Revision verweigert, weil das Urteil 2. Instanz auf tatsächlicher Erwägung beruht oder die Beschwerdesumme nur 3000 Mk. beträgt. Das Privatinteresse lehnt sich gegen jede Beschränkung der Revision auf. Das Reichsgericht ist nicht geschaffen, um den „Rechtsanspruch des Deutschen Bürgers zu sichern“. Das ist die Aufgabe der ersten und zweiten Instanz.
  3. Gänzlichen Ausschluss des Privatinteresses bei der Revision erstreben die Ausführungen von Wildhagen bereits in D. Jur. Zeit. 1908 S. 924. Der Gedanke ist weiter verfolgt in Wildhagen, Der bürgerliche Rechtsstreit. Berlin, 1912. In dieser sehr beachtenswerten und eindrucksvollen Schrift werden die zweifellosen Missstände in der Revisionsinstanz auf die bestehende Verknüpfung des privaten mit dem öffentlichen Interesse zurückgeführt und deshalb die dritte Instanz ausschliesslich für das öffentliche Interesse der Erhaltung und Förderung der Rechtseinheit gefordert. Es sind auch Vorschläge gemacht, wie die Gerichte der ersten und zweiten Instanz zu organisieren und wie das Verfahren zu ordnen ist, damit zwei Instanzen dem privaten Interesse der Rechtsuchenden ausreichend genügen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/371&oldid=- (Version vom 14.8.2021)