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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Beseitigt würde das Privatinteresse bei der Einlegung der Revision, wenn das Gericht zweiter Instanz berechtigt und verpflichtet würde, mit seiner Entscheidung die Zulässigkeit der Revision gegen dieselbe auszusprechen. Ohne diesen Ausspruch wäre die Geltendmachung der Revision ausgeschlossen. Das Oberlandesgericht wäre dazu berechtigt in ihm zweifelhaft erscheinenden, für eine weitere Prüfung geeigneten Rechtsfällen. Durch gesetzliche Bestimmung wäre es zur Festsetzung der Zulässigkeit zu verpflichten, wenn es in vom Reichsgericht bereits entschiedenen gleichen oder ähnlichen Fällen von dessen Entscheidung abweicht und wenn andere Oberlandesgerichte in gleichen Fällen anders entschieden haben. Nach dem Gesetzentwurf von 1910 wäre die Prüfung dieser Voraussetzungen die Sache der Parteien gewesen. Die Erwägung durch die Gerichte selbst würde die in jenem Fall befürchteten Nachteile – Präjudizienkultus und häufige Rechtsmittel nicht nach sich gezogen haben. Die Grundlage wären auch hier die vom Reichsgericht selbst formulierten Rechtssätze. Durch eine öffentliche Behörde, eine Staatsanwaltschaft in Zivilsachen könnte diese Tätigkeit der Oberlandesgerichte überwacht und durch die Berechtigung, ihrerseits die Zulässigkeit der Revision auszusprechen, ergänzt werden.

Beiseite gesetzt würde das Privatinteresse auch, wenn das Aussprechen der Zulässigkeit der Revision ausschliesslich einer öffentlichen Behörde, einer Zivilstaatsanwaltschaft übertragen würde. Bei grösseren Oberlandesgerichten hätte die Behörde aus mehreren Personen zu bestehen. Durch ihre Ernennung aus Richterkreisen könnte ihre Unabhängigkeit gewährleistet werden

Durch beide Einrichtungen wäre das Privatinteresse beseitigt bei der Frage, ob das Rechtsmittel eingelegt werden darf. Es würde wieder eintreten bei der Durchführung derselben. Die Prozesse wären der Regel nach mit dem Spruch der zweiten Instanz zu Ende. Stellt das Oberlandesgericht oder die öffentliche Behörde fest, dass ein allgemeines Interesse an der nochmaligen Prüfung der Sache besteht, so eröffnen sie den Parteien dies und überlassen es der unterlegenen Partei, ihr Recht weiter zu verfechten. Verzichtet die Partei darauf, so muss auch das öffentliche Interesse schweigen.

Nur beschränkt würde das Privatinteresse, wenn man durch eine Vorprüfung seitens eines Senatsmitglieds und des Senatspräsidenten oder seitens zweier Mitglieder die Rechtssachen ausschiede, in denen die eingelegte Revision zweifellos einen Erfolg nicht haben kann. Wer sich nicht entschliessen kann, die Oberlandesgerichte selbst über die Zulässigkeit des Rechtsmittels bestimmen zu lassen und wer dies auch nicht einer öffentlichen, nichtrichterlichen Behörde anzuvertrauen vermag, wird der Vorprüfung durch einzelne Glieder des Gerichts seine Erwägung zuwenden müssen.[1] Liegt es zurzeit in der Macht des einzelnen Rechtsanwalts am Reichsgericht die Einlegung der Revision abzulehnen und sie als unzulässig oder bestimmt erfolglos zurückzuweisen – die anderen Rechtsanwälte am Reichsgericht pflegen dann auch ihrerseits die Vertretung zu versagen – , so wird die Zurückweisung ohne Verhandlung durch ein oder zwei Mitglieder des Gerichts die Parteien kaum ungünstiger stellen.

Als eine Beschränkung des Privatinteresses wäre endlich noch aufzufassen die gänzliche oder fakultative Beseitigung der mündlichen Verhandlung vor dem Reichsgericht.

In der einen oder anderen dieser Richtungen wäre der Kampf des Einzelnen um sein Recht zu beschränken und den höheren Interessen des Ganzen dienstbar zu machen. Gelänge es, das Privatinteresse bei der Einlegung der Revision, wie oben geschildert, ganz zu beseitigen, so könnte die Revisionssumme ermässigt werden, wenn nicht ganz wegfallen.

Ob es dieser Auffassung gelingen wird, sich gegenüber der Zähigkeit überlieferter Ansichten und der Macht beteiligter Interessen, denen sie entgegentreten muss, durchzusetzen, steht dahin. Von den Regierungen ist angekündigt, dass als Abhilfe für künftige Zeit vorerst nur Vermehrung der Mitglieder und der Senate ins Auge gefasst werden solle. Dem gegenüber muss immer wieder betont werden, dass ein oberster Gerichtshof in einem grossen Lande, der allzuviele Prozesse und dabei auch untergeordnete, nicht lediglich wichtige Fragen zu entscheiden hat, so viele Mitglieder erfordert,


  1. Hagen s. a. a. O. will auch, wenn das Berufungsurteil an Mängeln leidet, die dessen Aufhebung und zugleich die weitere Entscheidung in einem bestimmten Sinne unbedenklich gebieten, namens des Senats endgültige Entscheidung durch zwei Mitglieder desselben nach Gehör des Revisionsgegners ergehen lassen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/372&oldid=- (Version vom 14.8.2021)