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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Gesetzesrecht mit seiner Berechenbarkeit die unbedingt erforderliche Rechtssicherheit. Deshalb wird der Staat sein Absehen darauf richten müssen, die Strafrechtspflege in der Hauptsache gesetzlich festzulegen und das Ermessen der Justizorgane nur in solchen Punkten zu entfesseln, wo die Möglichkeit exakter Formulierung versagt oder Werturteile im Spiele sind, die der Gesetzgeber nur ins Blaue hinein fällen könnte (z. B. Frage, in welcher Reihenfolge Zeugen vernommen werden sollen).

Im übrigen ist dabei auch nicht zu übersehen, dass zwischen der „gesetzlichen Regelung“ und der „Freigabe des Ermessens der Organe für den Einzelfall“ noch Zwischenglieder inmitten liegen. Eine Regelung kann sehr wohl eine „feste“ sein, ohne dass sie vom Gesetz ausginge. Damit soll nicht auf die Regelung im Verordnungswege angespielt sein. Gesetz und Verordnung mögen hier als eine einheitliche Gruppe zusammengefasst sein, einmal weil Verordnungen strafprozessrechtlichen Inhalts, abgesehen von den Strafjustizverwaltungsverordnungen, heute keine erhebliche Rolle spielen, sodann weil die Aufteilung des zu regelnden Stoffes zwischen das Gesetz im konstitutionellen Sinne und die Verordnungsgewalt für die Strafrechtspflege kaum nach besonderen Gesichtspunkten zu erfolgen haben wird. Wohl aber sei hier auf die interessante Erscheinung des englischen Rechtslebens: die rules der Gerichte hingewiesen.[1] Die Frage wird der Erwägung wert sein, ob nicht zahlreiche Punkte innerhalb der Strafrechtspflege zwar an sich einer „festen“ Regelung bedürfen, doch aber einer – die Änderung erschwerenden und die verschiedenen Justizstellen zu schablonenhaft gleichmässig behandelnden – gesetzlichen Festlegung widerstreben. Ist dies der Fall, so bieten die englischen rules einen praktischen Ausweg.

Im Folgenden sind unter A die Probleme eingestellt, die herkömmlich als Gesetzgebungsfragen behandelt werden; unter B folgen solche, die gewöhnlich nicht als solche der lex ferenda aufgefasst werden.

A. Strafprozessrechtspolitik.

I. Die Rechtsschutzstellen.

1. Ausser Diskussion steht heute, dass nur staatliche Stellen geeignet sind, über die Erteilung des Strafrechtsschutzes zu entscheiden; dass eine unmittelbare Beteiligung des Staatshaupts an der Rechtsprechung (Kabinettsjustiz) schon deshalb ausgeschlossen sein muss, weil die Rücksicht auf die Rechtssicherheit Justizorgane bedingt, die hinsichtlich der Gesetzmässigkeit ihres Handelns einer Verantwortlichkeit unterliegen; dass eigene staatliche Stellen für die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit vorzusehen sind, die zwar auch mit sonstiger Gerichtsbarkeit, aber nicht mit Aufgaben der Verwaltung (exkl. Justizverwaltung) betraut sein dürfen; dass diese Gerichte ebensosehr an das Gesetz zu binden wie von einer Befolgungspflicht gegenüber den (nicht justizverwaltungsmässigen) Weisungen vorgesetzter Stellen unabhängig zu stellen sind; dass gültig Recht zu sprechen nur Stellen berufen sein können, die das Gesetz vorsieht, nicht „Ausnahmegerichte“, deren Konstituierung ausserhalb des Gesetzes steht.

Unausgetragen ist in diesen Beziehungen nur die Frage, ob nicht die Abrügung geringfügiger Verfehlungen bestimmten Verwaltungsbehörden (Polizei-, Zoll- und Steuerbehörden usw.) zu überlassen sei. Das Reichsrecht hat die gesetzgeberische Entscheidung hierüber in der Hauptsache dem Landesrecht überlassen; daher die Erscheinung, dass z. B. polizeiliche Strafverfügungen in Bayern und Hessen im Gegensatz zu den meisten Einzelstaaten nicht Rechtens sind. Gegen eine Verhängung von Strafen durch Verwaltungsstellen wird meist das Argument geltend gemacht, dass deren Blick berufsmässig zu stark auf die öffentlichen Interessen gerichtet sei, und das Individuum deshalb möglicherweise Not leide. Aber auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass die verwaltungsmässige Erledigung regelmässig kürzer, wohlfeiler und ohne den oft für das Individuum lästigen Apparat der Justiz erfolgt, dass die Verhängung einer Strafe durch eine Verwaltungsbehörde im Publikum minder tragisch genommen wird als gerichtliche Bestrafung, endlich dass bei einem Teil der Fälle (so bei Gefällsstrafsachen) der Richter nicht derart Spezialist ist, wie die


  1. Vgl. Gerland, Die Einwirkung des Richters auf die Rechtsentwickelung in England, S. 8 ff.; Derselbe, Englische Gerichtsverfassung S. 232 ff., 287 ff. und sonst.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/376&oldid=- (Version vom 14.8.2021)