Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/378

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

seine Antipathien gegen um völlig auszuschalten; eine aus persönlicher Sympathie oder Antipathie geborene Strafjustiz würde schwere Erschütterungen im Gefolge haben umsomehr, als jene Gefühle häufig sehr individuell und selbst für den, der sie in sich trägt, schwer kontrollierbar sind. Unzweifelhaft ist aber die weibliche Psyche viel weniger, als die männliche, imstande, in einer konkreten Angelegenheit ein Urteil zu fällen, das von Liebe und Hass unbeeinflusst ist.

5. Der Gedanke, dass der zum Richten Berufene möglicherweise in einer konkreten einzelnen Strafsache nicht völlig unparteiisch sein, oder doch der Schein fehlender Unparteilichkeit obwalten kann, hat im geltenden Recht zu Bestimmungen geführt, kraft deren für die betr. Strafsache teils „Ausschliessung vom Richteramt“, teils „Ablehnbarkeit“ eintritt. In dieser Hinsicht ist hier von Interesse namentlich die Frage, ob und inwieweit eine etwa vorhandene politische oder konfessionelle Gegensätzlichkeit zwischen Richter und Angeklagtem Berücksichtigung verdient. Unzweifelhaft liegt in solcher Gegensätzlichkeit die Gefahr falscher, d. i. nicht objektiver Behandlung, zumal in den Fällen, in denen die politische oder konfessionelle Grundanschauung des Richters auch bei Würdigung der Tat (etwa als Beschimpfung religiöser Einrichtungen) mitsprechen kann. Gleichwohl kann die Tatsache, dass der Richter auf einem bestimmt ausgeprägten Standpunkte in konfessioneller oder politischer Hinsicht steht, für sich allein nicht zu seiner Ausschaltung führen. Die Konsequenzen einer solchen Bestimmung wären unübersehbar. Das Postulat würde am letzten Ende darauf hinauslaufen, dass nur politisch und konfessionell ganz indifferente Richter mit der Aburteilung betraut würden – und wie sollen solche gefunden werden? Auch kann der Schutz gegen unstatthaften Subjektivismus in der Ausbildung des Richters (strenge Gewöhnung an Objektivität) und in den Verfahrensbestimmungen gesucht und gefunden werden, die ihn nötigen, seine Gedankengänge aufzudecken und ihre Kontrolle – auch durch die öffentliche Meinung – zu ermöglichen. Freilich ist nicht zu verkennen, dass dem Laienrichter gegenüber in diesen Beziehungen eine gewisse Schutzlosigkeit besteht, da er weder zum Amte erzogen wird, noch in der Weise wie der Berufsrichter seine Entscheidungen motivieren kann und zu motivieren braucht.

II. Das Rechtsschutzverfahren.

Man kann mit nur geringer Übertreibung sagen, dass, seitdem sich im 18. Jahrhundert die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Schäden des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses gelenkt hatte, der politische Liberalismus ständig der Träger aller Reformen gewesen und bis heute geblieben ist. War ehedem das Verfahren in allem Wesentlichen nur gedacht als ein Vorgang zum Schutze der Gesamtheit gegen das Verbrechertum – ne delicta maneant impunita – , so ist es heute der Schutz des Individuums gegen die Staatsgewalt, der für den Ruf nach Reformen den Grundton angibt: Schutz des Unschuldigen möglichst schon dagegen, dass ihm überhaupt ein Strafprozess aufgenötigt wird, jedenfalls aber dagegen, dass er zu Unrecht gestraft wird; Schutz auch des Schuldigen gegen unnötige und ungebührliche Leidenszufügung ; Schutz Dritter vor unnötiger und exzessiver Belästigung. Im Dienste dieser Idee hat sich der Strafprozess im 19. Jahrhundert reformiert zu einem Verfahren mit Anklageform und Staatsanwaltschaft, mit Mündlichkeit, Unmittelbarkeit, freier Beweiswürdigung und Öffentlichkeit. Aber die rein negative Forderung, dass für das Individuum eine Sphäre sichergestellt wird, vor der die Strafjustiz Halt zu machen hat, kann, so zentrale Bedeutung sie auch hat, das Problem der Gestaltung des Verfahrens schon deshalb nicht restlos lösen, weil sie für sich allein die Grenzen dieser Sphäre nicht umreisst, diese sich vielmehr erst im Zusammenhalt aller Bedürfnisse mit einander bestimmen lassen. Allzuweite Hinaussteckung dieser Grenzen käme auf eine Lahmlegung der Strafjustiz hinaus oder könnte wenigstens unliebsame Verzögerung und Verteurung im Gefolge haben. So werden auf Schritt und Tritt Interessenwägungen erforderlich. Übrigens treten die Ideale der möglichsten Treffsicherheit, der Promptheit und der Wohlfeilheit der Strafrechtspflege oft auch da herein, wo es sich nicht oder nicht in erster Linie um die Frage der Ausgleichung der Gesamtheits- und der Individualinteressen handelt. Für die Gesamtheit selbst ist namentlich das Bedürfnis der Prozessökonomie zu betonen: Erreichung des Zweckes mit dem geringstmöglichen Aufwand an Zeit, Kräften und Kosten. Dies um so mehr, als die Strafrechtspflege keine produktive Tätigkeit im wirtschaftlichen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/378&oldid=- (Version vom 14.8.2021)