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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Überhaupt hat es seine Bedenken, die Tätigkeit der Beamten der Staatsanwaltschaft an andere Normen als die des allgemeinen juristischen Denkens zu binden. Ob es wohlgetan ist, sie, wie es das geltende deutsche Recht tut, an die Anweisungen der Vorgesetzten zu binden und ihnen die Garantien der richterlichen Unabhängigkeit (Unabsetzbarkeit usw.) zu versagen, lässt sich stark bezweifeln. Man sagt, dass diese Stellung der Staatsanwaltschaft unentbehrlich sei, weil die Regierung auf die Strafverfolgung müsse Einfluss üben können. Diese Beeinflussung von seiten der Regierung kann aber nur auf zweierlei hinaus wollen: Entweder: es soll ein juristisch nicht begründeter Strafprozess heraufbeschworen oder ein juristisch begründeter Strafprozess unterdrückt werden. Dass derartige Tendenzprozesse bezw. Tendenzunterdrückung von Prozessen für das Gemeinwohl schädlich sind, Erbitterung erzeugen und demoralisierend wirken, lehrt die Geschichte; aber auch die Regierung selbst kompromittiert sich durch solches Vorgehen in augenfälliger Weise mindestens dann, wenn es sich um grundlose Anklagen handelt, die von den Gerichten mit Freisprechung beantwortet werden. Oder aber der Einfluss der Regierung ist so gemeint, dass diese vor juristischen Skrupeln und Irrtümern des mit der Sache befassten Staatsanwalts sichergestellt wird. Dann ist es selbstverständlich erwünscht, wenn die Regierung, mag sie auch von politischen Motiven geleitet sein, Remedur schaffen kann. Zu diesem Behufe ist es aber nicht erforderlich, den Untergebenen durch Anweisungen oder Verkümmerung der unabhängigen Stellung die Hände zu binden. Es würde vielmehr die gesetzliche Bestimmung genügen, dass jede staatsanwaltschaftliche Entschliessung von vorgesetzter Stelle aus ausser Kraft gesetzt werden und die weitere Bearbeitung der Sache einem anderen Beamten übertragen werden kann (was in der Hauptsache schon jetzt Rechtens ist).

Aber auch nach anderer Richtung hin ist die Wahrheit, dass der Staatsanwalt nicht anders zu arbeiten und zu denken hat, als jeder andere Jurist, zum Teil verdunkelt. Noch ist viel, vielleicht überwiegend, die Meinung vertreten, dass der Staatsanwalt, wenngleich durch das Gesetz zu voller Beachtung und Anwendung des Entlastungsmaterials berufen, doch in dubio stets die dem Beschuldigten ungünstige Lesart zugrunde zu legen habe, und zwar nicht nur, wo er in tatsächlicher oder juristischer Hinsicht persönlich zweifle, sondern auch, wo er – bei juristischen Problemen – zwar persönlich im Sinne der dem Beschuldigten günstigen Lösung überzeugt sei, aber eine Streitfrage existiere. Darüber hinaus wird heute öfter an die Gesetzgebung das Postulat gestellt, sie möge nach englischem Muster den Strafprozess zum reinen Parteiprozess machen in dem Sinne, dass die Aufgabe der Staatsanwaltschaft auf Sammlung und Geltendmachung lediglich des tatsächlichen und juristischen Belastungsmaterials beschränkt werde.

Schon jene de lege lata verfochtene Meinung ist weder irgendwie im Gesetz begründet, noch durch triftige Gründe rechtspolitischer Art gestützt. Tatsächlich pflegt die länger dauernde staatsanwaltschaftliche Tätigkeit ganz von selbst die Neigung zu erzeugen, die Dinge lieber schwarz als weiss anzusehen. Dem Staatsanwalt aber geradezu die Verpflichtung auferlegen, die ihm unterlaufenden Fälle nicht so zu erledigen, wie er es als Richter tun würde, heisst die Zwecke verkennen, zu denen die Staatsanwaltschaft geschaffen ist. Sie soll ja gerade prüfen, ob die Strafverfolgung im konkreten Falle nach dem Gesetz zu erfolgen hat. Eine Überschwemmung der Gerichte mit dubiösen Sachen wäre weiter ganz unökonomisch. Auch genügen das private Beschwerderecht, das Klageprüfungsverfahren und die Dienstaufsicht vollständig, um das Interesse am Eintritt einer Strafverfolgung gegenüber dem von unbegründeter Skepsis erfüllten Staatsanwalt zum Durchbruch zu bringen. Endlich ist wohl nichts so sehr geeignet, die Staatsanwaltschaft mit einem Odium zu belasten, als die Praxis der „ungünstigen Lesart.“[1]

In noch umfassenderem Masse ist die Forderung zu missbilligen, dass die Staatsanwaltschaft lediglich contra reum zu wirken berufen sein solle. Ein solcher „Parteiprozess“ würde ein Zerrbild ergeben, die Ermittelung der Wahrheit gefährden, gänzlich unökonomisch sein, das staatsanwaltschaftliche


  1. Etwas ganz anderes ist selbstverständlich, dass der Staatsanwalt die Anklage schon bei hinreichendem Verdacht zu erheben hat. Die Annahme, dass hinreichender Verdacht vorliege, ist gesetzliche Voraussetzung für die Eröffnung des Hauptverfahrens durch den Richter. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, hat der Staatsanwalt mit richterlichem Auge zu prüfen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/380&oldid=- (Version vom 14.8.2021)