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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Mit dem alten deutschen Schöffengericht, das auf der Scheidung zwischen dem Hegen des Gerichts durch den Richter und dem Urteilen durch die Schöffen auf Urteilsfrage des Richters hin beruhte, teilt das moderne Schöffengericht als einheitliches Spruchkollegium nur den Namen.[1]

Diese Gerichtsform ist zuerst in der hannoverschen Gesetzgebung 8. 11. 1850 eingeführt worden: ein Berufsrichter und zwei Schöffen urteilen über Polizeistrafsachen (Zweck: Popularisierung dieses Zweiges der Rechtspflege, Ermöglichung kollegialen Entscheids).

Es folgten: Oldenburg, Bremen, Kurhessen, Baden, Preussen (25. 6. 1867 f. d. neuen Landesteile), Württemberg, Sachsen (1. 10. 1868). Württemberg hatte Schöffengerichte auch in der Mittelstufe, Sachsen überwies ihnen nur die mittleren Straffälle. Das sächs. Schöffengericht war jedoch im Grunde modifiziertes Schwurgericht, indem den Schöffen die Straffrage entzogen war und sie auch am Schuldentscheid nur in dem gleichen Umfang wie Geschworene (§ 66 des sächs. Schwurgerichtsges. v. 1. Okt. 1868: Anwendung der Rechtsbegriffe vielfach den Richtern vorbehalten) teilnahmen; noch weitergehende Beschränkung der Schöffen in Kurhessen.

Ständige, nicht im Reihedienst amtierende Schöffen kannte Hamburg (Verfassung 28. 9. 1860, Ges. 30. 4. 1869). Diese Einrichtung entspricht nicht, wie immer die ständigen Schöffen bestimmt werden möchten, der rechtspolitischen Forderung einer Beteiligung des Volksganzen an der Strafrechtspflege.

An die so geschaffenen Schöffengerichte hat sich eine lebhafte Agitation zur Ersetzung der Geschworenen durch Schöffen angeschlossen. Seit 1865 war Schwarze (das deutsche Schwurgericht und dessen Reform usw.) dafür eingetreten; in neuerer Zeit fand das Schöffenprinzip zahlreiche Anhänger, unter denen Wach, Jurist. Zeitung Bd. 10 S. 81 fg., 321 fg., Bd. 14 S. 11, Recht, Bd. 15, S. 114 fg. hervorragt. Doch auch der Jury fehlt es nicht an Verteidigern (Ullmann, Birkmeyer, W. Mittermaier, v. Bar, Kahl, Liepmann usw). Für wesentlich reformiertes Schwurgericht (s. oben unter I u. III a. E.) und Umbildung des Schöffengerichts (Ausschluss des Vorsitzenden vom Schuldentscheid bei mittleren Straffällen, getrennte Erledigung von Schuld- u. Straffrage nach Ermessen des Gerichts, Aufstellung von Schuldfragen unter Mitwirkung der Parteien, entsprechend dem akkusatorischen Typus) mit dem Ziel der Verschmelzung beider Gerichtsformen: Oetker (insbes. Arch. f. Rechts- pp. Philosophie Bd. 2 Heft 2). Die Rückkehr zum rechtsgelehrten Beamtengericht empfehlen Binding, Beling pp. (meist unter Anerkennung relativen Vorzugs des Schöffengerichts vor der Jury).

Die ersten Entwürfe zu der geltenden Reichsgesetzgebung hatten für die erste Instanz die Alleinherrschaft des Schöffengerichts angestrebt. Die Volkstümlichkeit der Jury aber nötigte zu deren Beibehaltung unter Beschränkung des Schöffengerichts auf die unterste Stufe.

Ebenso blieb die Befürwortung des Schöffensystems durch die Kommission zur Vorbereitung einer neuen deutschen Strafprozessordnung insofern ohne Erfolg, als die Entwürfe 1908, 1909 – dem Drucke der Volksstimme nachgebend – die Jury für schwerere Verbrechen beibehielten. Dagegen siegte das Schöffengericht in der Mittelstufe – unter Beseitigung der nur mit Berufsrichtern besetzten Strafkammern – , während die Zuständigkeit der untern Schöffengerichte in den Entwürfen nach oben hin erheblich und bedenklich erweitert wird, zugleich aber die kleine Kriminalität und die summarischen Sachen den Amtsrichtern als Einzelrichtern zufallen.

Die Vorkommission wollte Schöffengerichte auch für die Berufungsinstanz.[2] Die Entwürfe hingegen überweisen diese Gerichtsbarkeit reinen Beamtengerichten. Wird indes in der Zuziehung von Schöffen eine Garantie des voll gerechten Urteils und volkstümlicher Strafjustiz erblickt und gegen Strafurteile die Berufung, eine Nachprüfung nicht nur im Rechtspunkte, sondern auch in der Beweisfrage gewährt – wofür starke Gründe sprechen – , die Berufungs-Verhandlung auch, wie nicht anders möglich, als neue Hauptverhandlung mit ausgiebiger Beweiserhebung in den Grenzen der Berufungsanträge gestaltet, so ergäbe die Fernhaltung der Schöffen vom Standpunkte der das Institut stützenden Erwägungen ein weniger gut besetztes Gericht und einen vollen inneren Widerspruch.

Die österr. Vorentwürfe von 1909 haben das Schöffeninstitut aufgenommen in Gestalt kleiner Schöffengerichte in der Mittelstufe und grosser Schöffengerichte, denen ein Teil der bisherigen Geschworenen-Kompetenz zugewiesen ist; die Übertretungen (für die einst der Prozess-E. 1867 § 476


  1. Vgl. auch Birkmeyer, Strafprozessrecht S. 222 zu K 5.
  2. Mitwirkung von (ständigen) Schöffen in höherer Instanz bestand in Hamburg.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/390&oldid=- (Version vom 18.8.2021)