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und Friedrich der Grosse, sich durchaus als Repräsentanten ihres Staates, ja als dessen Beamte bezeichnet. Folglich ist es staatsrechtlich unmöglich, einen Gegensatz zwischen „Regierung“ und „Volksvertretung“ zu konstruieren.

Und doch lebt ein solcher Gegensatz im Volksbewusstsein. Nur handelt es sich dabei nicht um die staatsrechtliche Stellung, sondern um die Bestellung des Parlamentes. Ueberall geht es, ganz oder wenigstens zum Teil, aus Wahlen hervor. Durch die Wahl bringt der wahlberechtigte Teil des „Volkes“, d. h. der jeweils vorhandenen Menge der Staatsbürger, seinen Willen zum Ausdruck. Die Zusammensetzung des Parlaments ist Ausdruck des „Volkswillens“, richtiger des Willens der Wählerschaft, so wie er sich in einem bestimmten Augenblick gestaltet hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Parlament allerdings scharf von jeder Regierung, die nicht aus Volkswahlen hervorgeht, mag sie nun Monarchie oder was immer sonst sein (Wo aber, wie in den Vereinigten Staaten, auch der Präsident durch das Volk gewählt wird, da beruht der Unterschied der beiden Arten der „Repräsentanten“ lediglich auf ihrer staatsrechtlichen Aufgabe.) „Volksvertretung“ soll also soviel heissen wie „vom Volke bestellte Vertretung des Staates“. Man hat dies (so Jellinek, Allgemeine Staatslehre) auf die Weise staatsrechtlich verwerten wollen, dass man sagte, das Parlament sei nur sekundäres Organ des Staates, primäres sei das Volk, das sich des Parlamentes als eines Organs bediene. Aber hierbei wird doch wohl verkannt, dass es im staatsrechtlichen Sinne eben nicht das Volk, sondern die Wählerschaft ist, die das Parlament bestellt und dass nicht die Handlungen des Parlamentes, sondern seine Mitglieder durch die Wahl bestimmt werden.

Macht man mit dem Gedanken, dass das Parlament das Volk vertrete, Ernst, so kommt man notwendig zum „imperativen Mandat“, d. h. zu der Forderung, dass der gewählte Parlamentarier seine Handlungen nach den Weisungen richte, die seine Wählerschaft bei der Wahl oder nach der Wahl ihm erteilte. Einen solchen gebundenen Auftrag hatte der landständische Abgeordnete, der einen Verband, eine Gemeinde durch Wahrnehmung ihrer Interessen in der Ständeversammlung zu vertreten hatte. Die Beseitigung des imperativen Mandates bedeutete daher in der englischen Parlamentsgeschichte ein unfehlbares Zeichen dafür, dass sich das Parlament aus einer ständischen Vertretung zu einem Organ des englischen Staates ausgewachsen hatte. In der deutschen Verfassung aber bezeichnet die Gebundenheit der Bundesrats-Bevollmächtigten das föderative, die Entschlussfreiheit der Reichstagsabgeordneten das unitarische Wesen der Staatseinrichtung. Nicht den Willen der Wählerschaft, sondern den Staatswillen bringt das Parlament durch seine Beschlüsse zum Ausdruck. „Les membres de l’assemblée nationale“ heisst es in der französischen Verfassung von 1848 (Art. 34) „sont représentants de la France entière.“ Auch mögen zum Belege die prächtigen Worte dienen, mit denen die Stein’sche Städteordnung in § 110 Abs. 2 den Stadtverordneten ihre Stellung bezeichnet:

„Das Gesetz und die Wahl sind ihre Vollmacht, ihre Ueberzeugung und ihre Ansicht vom gemeinen Besten der Stadt ihre Instruktion, ihr Gewissen aber die Behörde, der sie deshalb Rechenschaft abzulegen haben. Sie sind im vollsten Sinne Vertreter der ganzen Bürgerschaft, mithin so wenig Vertreter des einzelnen Bezirkes, der sie gewählt hat, noch einer Korporation, Zunft usw., zu der sie zufällig gehören.“

Die beiden Gedanken: „Der Wille der Wählerschaft kommt in der Bestellung der Parlamentsmitglieder zum Ausdruck“ und: „Das Parlament bringt den Willen des organisierten Volkes, d.h. des Staates, zum Ausdruck“ machen zusammen die „parlamentarische Idee“ aus.

„Der eine Bestandteil der Freiheit ist, abwechselnd zu regieren und regiert zu werden, der andere: zu leben nach eigenem Belieben.“ Das Parlament ist bestimmt, den ersten der beiden Aristotelischen Bestandteile der Freiheit zu verwirklichen. Es ist eine Form der Selbstregierung der Regierten. Wo eine unmittelbare Teilnahme der Regierten an der Regierung wegen der Grösse des Staatswesens unmöglich ist, da bleibt nur übrig

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/395&oldid=- (Version vom 19.8.2021)