Diverse: Handbuch der Politik – Band 1 | |
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historischen Disziplinen dahin verfolgt werden, dass sich die Stellung der Kulturgeschichte immer selbständiger gestaltet, während die politische Geschichte als eine der Teildisziplinen historischer Wissenschaft neben die Disziplinen der Literaturgeschichte, der Kunstgeschichte, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte tritt. Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, vom psychologischen Standpunkte aus die Entwicklung der Staatskunst, wie sie ja schliesslich innerste Seele der Entwicklung jedes Staatswesens ist, zu schildern und dabei vornehmlich die typischen Formen hervorzuheben. Geschieht das an der Hand der deutschen Entwicklung, so ist hierfür das Streben nach stärkerer Veranschaulichung nur sekundär massgebend. Vor allem bleibt zu bedenken, dass die bisherigen Forschungen bezw. Umwertungen bekannter Daten noch nicht soweit fortgeschritten sind, um ein allgemein befriedigendes Bild jeglicher politischen Entwicklung, sei es in der Darstellung von Entwicklungsformen, sei es in der Darstellung der Entwicklung von politischen Zeitaltern, zu gestatten.
I. Die Demokratie der Urzeit.
Will man den Staat, den uns Caesar und Tacitus schildern, wirklich verstehen, so muss man zunächst den historischen Moment zu fixieren suchen, in dem sich die Entwicklung dieses Staatswesens zu eben der Zeit befand, da die Römer ihn beschreiben. Als von vornherein für diesen Staat charakteristisch ergibt sich da schon äusserlich, dass er sehr bald darauf, in der Zeit vom 2.–4. Jahrhundert etwa, zugrunde gegangen ist, und zwar nicht bloss durch äussere Ereignisse, sondern noch mehr durch innerliches Absterben, wie es der Übergang der deutschen Stämme zum Stammesherzogtum und zu verwandten Formen bezeugt. Der Staat des Caesar und Tacitus ist also keine junge Bildung, sondern stellt vielmehr den Abschluss einer längeren Entwicklung dar, deren Anfange wir freilich chronologisch zu fixieren nicht in der Lage sind. Zieht man aber die innere Struktur des germanischen Staates heran, so ergibt sich leicht, dass in ihm schon zwei grosse Verfassungstendenzen verwirklicht sind, nämlich einmal die einer primitiven Geschlechterverfassung, und daneben die einer militärischen Umbildung der mit der Geschlechterverfassung gegebenen Elemente. Das jüngere Element ist dabei also der speziell militärische Charakter, das Aufkommen derjenigen Motive, welche sich mit kriegerischen Wanderungen einstellen mussten, und derjenigen Erscheinungen, welche, wie z. B. das Gefolge, aus der Differenzierung nomadischer und auch schon primitiver agrarischer Verhältnisse in arm und reich ihren Ursprung nehmen konnten. Hält man diese beiden Elemente der Verfassung des 1. Jahrhunderts vor und nach Christus auseinander, so gelingt wohl auch noch ein Rückblick in die Zustände vor der militärischen Umbildung, und von ihm wird bei der Entwicklung der praktischen Politik und Staatskunst in der deutschen Geschichte auszugehen sein.
Was man unter diesen Voraussetzungen als ursprünglich bei den Germanen vorfindet, kann man wohl am besten als urzeitliche Demokratie bezeichnen. Wir sehen da eine Reihe von Geschlechtern, deren jedes, zunächst selbständig neben dem anderen stehend, seine eigene innere Verfassung hat. Diese Verfassung hat zwei Pole. Einmal die Autorität des Ältesten oder Häuptlings. Andererseits die absolut gleichwertige Stellung der einzelnen dem Geschlechte angehörigen Individuen, soweit sie männlich und erwachsen sind. Auf diesen Momenten ist der Hauptsache nach die Geschlechterverfassung mit ihrem primitiven Erbrecht, Vormundschaftsrecht und vor allem mehr moralischen Verfügungsrecht über die einzelnen Personen innerhalb des Geschlechts überhaupt aufgebaut. Über den Geschlechtern aber erhebt sich der Staat noch ganz deutlich als eine aus den Geschlechtern hervorgegangene Bildung, die sich zu den Geschlechtern etwa verhält, wie komposite Pflanzenblüten zu einfachen Blütenformen. Es ist auch noch deutlich zu erkennen, welches die Motive zu der Entwicklung der kompositen Bildung gewesen sind. Hauptsächlich kommen hier die Möglichkeiten des Streites zwischen Individuen oder mehr kompakten Massen der einzelnen Geschlechter in Betracht, wie sie vor allen Dingen in der Blutrache in Erscheinung traten. In diesem Zusammenhang konnte es bekanntlich vorkommen und ist es in späteren Zeiten noch häufig genug geschehen, dass der Totschlag eines Mannes aus der Sippe A zu einer Fehde dieser Sippe gegen jedes beliebige Exemplar des männlichen Bestandes der Sippe B führen konnte, worauf dann die
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/40&oldid=- (Version vom 30.6.2021)