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dem schon die Magna Charta angehört, hat auch das Parlament in seiner späteren Zusammensetzung entstehen sehen.

Zu den Baronen, d.h. den hohen Adligen, welche zu beratenden, beschliessenden und bewilligenden Versammlungen seit langem berufen zu werden pflegten, treten schrittweise die Elemente hinzu, welche nachmals das Unterhaus gebildet haben. 1213, also zwei Jahre vor der Magna Charta, wurden zu einer grossen Versammlung neben den Baronen vier „kluge Leute“ aus jeder Grafschaft als Vertreter derselben entboten. 1254 führt das Geldbedürfnis der Krone zu der Anordnung, dass zu einer in Westminster abgehaltenen Versammlung, ausser dem hohen Adel, je zwei Ritter aus den Grafschaften erscheinen sollen, um dem Könige die nötigen Geldbewilligungen zu machen. Ausdrücklich wird vorgeschrieben, dass die Ritter durch Wahl von seiten der Grafschaft zu ernennen sind. Wie hier die Vertreter des flachen Landes, so kommen ferner 1265 Abgeordnete der Städte hinzu. Zwar handelt es sich dieses Mal um ein von dem siegreichen Führer der Revolution Simon von Montfert berufenes Parlament. 30 Jahre nachher aber, 1295 beruft König Eduard I. das sogenannte Musterparlament, in dem alle die genannten Gruppen, nämlich hoher Adel und hohe Geistlichkeit, je 2 Ritter aus allen Grafschaften und je 2 Abgeordnete aus den Städten sich zusammenfinden, womit nun die normale Zusammensetzung der Parlamente für die Folgezeit gegeben ist. Dass sowohl in bezug auf die Grafschaftsvertreter wie auf die Städteabgeordneten eine Anknüpfung an Organe der lokalen Selbstverwaltung vorliegt, welche jetzt zur politischen Vertretung des Landes herangezogen werden, mag nur beiläufig erwähnt sein. Hier kommt es vor allem auf die Tatsache an, dass durch diese Entwicklung das Parlament zu einer Vertretung des gesamten Volkes geworden ist. Zugleich tritt jetzt der Unterschied hervor zwischen denjenigen, welche aus eigenem persönlichen Rechte, die Geistlichen durch ihr Amt, die hohen Adligen durch ihre Geburt, dem Parlamente angehören und den Vertretern der Grafschaften und Städte, welche als die gewählten Repräsentanten des Volkes erscheinen. Jene schliessen sich später im Oberhause oder dem Hause der Lords zusammen, diese im Unterhause oder dem Haus der Gemeinen. Diese Zweiteilung ist freilich erst allmählich erfolgt, sie ist erst unter Eduard III., also im 14. Jahrhundert, zur festen Regel geworden. Auch ist sie nicht etwa um des Prinzips des Zweikammersystems willen gewählt worden, dessen Vorzüge noch von niemandem geahnt wurden und sich erst im Lauf der historischen Entwicklung des englischen Parlamentarismus der Welt offenbart haben.

Die Frage ist natürlich, woher die Mitglieder des Unterhauses das Verständnis, wir würden sagen, die politische Reife zur Lösung der ihnen obliegenden Aufgaben schöpften. Bei der Steuerbewilligung, welche vorläufig die Hauptsache blieb, kam es auf ein richtiges Urteil über die Bedürfnisse der Regierung auf der einen und die Steuerkraft des Landes auf der anderen Seite an. Bald kam aber noch ein gewisser Einfluss auf den Gang der Regierung hinzu, welchen die Kommunen in der Form von Petitionen ausübten, von deren Annahme seitens des Königs sie die Steuerbewilligung abhängig zu machen pflegten. Aus dem Recht, Petitionen zu überreichen, entwickelte sich aber der regelmässige Anteil des Unterhauses an der Gesetzgebung. Dass nun die Vertreter der Grafschaften und die Städteabgeordneten diesen hohen Aufgaben gewachsen waren, verdankte man den Erfahrungen, welche sie, wie schon erwähnt, im Kreise der lokalen Verwaltung gewonnen hatten. So wurde die altberühmte englische Selbstverwaltung, das „selfgovernment“, die Vorschule des englischen Parlamentarismus.

Zusammensetzung und Wirkungskreis des Parlaments haben im Lauf der folgenden Jahrhunderte weit weniger gewechselt als seine tatsächliche Macht. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war diese Macht bedeutend genug; sie hatte ihren Grund darin, dass das durch Usurpation emporgekommene Haus Lancaster am Parlamente seine beste Stütze besass. In der Zeit der Rosenkriege sank es herab zum Werkzeug der durch den Sieg auf dem Schlachtfelde jeweils zur Herrschaft gelangten Dynastie. Noch geringer war seine Bedeutung in der Epoche der Tudors. Die Könige und Königinnen aus diesem Hause haben, gestützt auf das Vertrauen, welches das Volk ihnen entgegentrug, fast absolut regiert. Sie haben zudem die Kunst besessen, sich ausserparlamentarische Einnahmen in solcher Höhe zu verschaffen, dass sie, von dringenden Fällen abgesehen, der Bewilligungen des Parlaments entraten konnten. So war im 16. Jahrhundert die Monarchie und nicht das Parlament der führende Faktor im Staatsleben. Dieses folgt gleichsam von fern den grossen Bewegungen im

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/407&oldid=- (Version vom 21.8.2021)