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politischen Bewegung für den Aufbau der ganzen Monarchie auf dem Grundsatze autonomer Organisation seiner Nationen als Ziel vorschwebt. Für die Sicherung einer modernen Anforderungen entsprechenden Aktionsfähigkeit des Ganzen erschien die Festsetzung der Einheit des gesamten Heereswesens, also auch des Heeresergänzungswesens, eines Reichssteuern umfassenden Reichsfinanzwesens, die Erhebung des ganzen Reichs zu einer Wirtschaftseinheit und die Berufung des allgemeinen österreichischen Reichstags zur parlamentarischen Behandlung dieser Reichsangelegenheiten unentbehrlich (§§ 7, 36 e – h, 37, 38). Die historischen Länder, teils ehemalige Nationalstaaten, teils ehemals ständisch organisierte Territorien, die durch Landtage auf halb ständischer, halb konstitutioneller Grundlage repräsentiert werden sollen, dauern, wie dies auch nach der Aprilverfassung der Fall gewesen wäre, als Kronländer fort (§§ 1, 9, 70 ff, 77, 78). Die Zuständigkeit dieser Landtage wird jedoch im Einklange mit den Festsetzungen des Entwurfs des Kremsierer Verfassungsausschusses auf die ihnen ausdrücklich zugewiesenen Angelegenheiten beschränkt (§§ 35, 36 k). Vom Standpunkte der modernen Lehre von den Staatenverbindungen wäre das Kaisertum Österreich als ein Länderstaat, als ein Komplex autonomer Provinzen zu charakterisieren, sofern der Monarch nicht bloss dem Reichstag sondern auch den Landtagen als Kaiser (§ 37) und nicht, wie der Kremsierer Entwurf in Aussicht genommen hatte, als Landesoberhaupt gegenübertritt, die vollziehende Gewalt im ganzen Reiche und in allen Kronländern als eine, unteilbar und ausschliessend dem Kaiser zustehende (§ 84) und jede, welcher Körperschaft immer übertragene vollzieherde Gewalt als widerrufliche, zur Disposition der Krone stehende erklärt wird (§§ 84, 85). Die Abneigung des Hofes und der militärischen Kreise gegen ein konstitutionelles Regiment, die Skepsis der Berater des Kaisers hinsichtlich der Durchführbarkeit der Reichsverfassung führten zu dem kaiserlichen Patent v. 31. Dezember 1851 (Silvesterpatent) mittels dessen die Verfassung vom 4. März 1849 als unausführbar ausser Kraft gesetzt wurde. Ein Kabinetschreiben vom gleichen Tage stellte beratende Ausschüsse nach Art der russischen Adelsversammlungen an der Seite der Kreisbehörden und Statthaltereien in Aussicht.

Erst im Jahre 1860 führte das Bedürfnis, das durch eine klerikale innere und durch eine unglückliche äussere Politik gesunkene politische Ansehen der Monarchie und den gesunkenen Staatskredit zu heben, zur Wiederaufnahme der Experimente für eine Repräsentativverfassung durch den Kaiser. Sie beschränken sich zunächst darauf, einen in der Märzverfassung vorgesehenen Kronrat, den Reichsrat für den Zweck der Teilnahme an der Finanzgesetzgebung durch Repräsentanten der Länder, die vom Kaiser auf Grund eines Ternavorschlags der Länder ernannt werden sollen, zu verstärken. Sie schreiten von da aus zur Umgestaltung des verstärkten und noch weiter zu verstärkenden Reichsrates in eine halb legislative, halb beratende für die Reichsangelegenheiten zuständige Reichsversammlung mittels des Diplomes vom 20. Oktober 1860 (Oktoberdiplom oder Goluchowskiverfassung), um schon mittels des Patentes vom 26. Februar 1861 (Februar- oder Schmerlingverfassung) vorläufig mit der Einführung des Zweikammersystems durch Zerlegung des Reichsrates in ein auf ständischer Grundlage ruhendes Herrenhaus und ein aus der Wahl der Landtage hervorgehendes Abgeordnetenhaus zu enden. Beide Verfassungsexperimente sehen, das Oktoberdiplom minder klar, das Februarpatent deutlich, eine Ausscheidung der Repräsentanten der nichtungarischen Länder als engeren Reichsrates aus dem weiteren oder gemeinsamen Reichsrat vor, während die Frage nach der Gestaltung der Repräsentation der ungarischen Länder für die Nicht-Reichsangelegenheiten offen bleibt. Oktoberdiplom wie Februarpatent enthalten für die Abgrenzung der Reichsangelegenheiten eine schillernde Formel nach Art der in den Verfassungskompromissen zwischen König und Ständen über ungarische Verfassungsfragen üblichen. Sie bieten einen Katalog der Reichszuständigkeiten, der den Schein erschöpfender Aufzählung erregt, ausserdem aber die dehnbare Formel der Zuständigkeit des Reiches für alle Gegenstände der Gesetzgebung, die allen Königreichen und Ländern (den sogenannten historisch-politischen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/431&oldid=- (Version vom 22.8.2021)