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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

sei es in Form der Konstituierung einer Zollunion (eines Handelsbündnisses), sei es in Form eines Zoll- und Handelsvertrages. Der in beiden Gesetzen vorgesehene Verkehr zwischen den beiden Legislativen durch Deputationen hat sich infolge staatsrechtlicher Bedenken der Ungarn nicht entwickelt. Die Aufstellung des sogenannten gemeinsamen, wesentlich nur den Heeresaufwand umfassenden Budgets ist den Delegationen der beiden Legislativen vorbehalten, die sich wegen dieser ihrer Zuständigkeit und wegen ihrer Zuständigkeit zur Geltendmachung der konstitutionellen Verantwortlichkeit der gemeinsamen Minister als die beiden Legislativen im verkleinerten Massstab darstellen. In jeder der beiden Delegationen sind die von beiden Häusern Gewählten zu einem Kollegium vereinigt. Für die Wahrung ihrer schärfsten Sonderung in der Beratung und Beschlussfassung ist ängstlich Sorge getragen. Die Ungarn sind darauf bedacht, dass es zu der rechtlich zulässigen Vereinigung beider Delegationen für Abstimmungszwecke wegen obwaltenden Dissenses nicht mehr komme. Das Rechtsinstitut der Delegationen bedeutet wegen ihrer kurzen Tagungen, wegen ihrer Zuständigkeit zur Feststellung des Heeresbudgets, wegen der mit ihrem Bestande verknüpften Ausschliessung eines unmittelbaren Einflusses beider Vollparlamente auf die gemeinsamen Minister, die im wesentlichen fachtechnische Organe der Krone sind und sich zu keiner Regierung im konstitutionellen Sinn d. W. zusammenschliessen, eine weitgehende Einschränkung des konstitutionellen Prinzips in beiden Ländergruppen. Nur so ist es erklärlich, dass die Bevölkerung hüben und drüben während des Balkankrieges über die Ziele der äusseren Politik in beängstigende Ungewissheit dauernd und ohne fühlbare parlamentarische Gegenwirkung erhalten werden konnte. Aber auch die Finanz- wie die Wirtschaftspolitik wird, soweit sie den Gegenstand der Vereinbarung zwischen beiden Ländergruppen bildet, nicht durch die Parlamente sondern durch die Regierungen oder richtiger durch die auf sie drückenden ausserparlamentarischen wirtschaftlichen Parteien bestimmt. Ein organischer Zusammenhang zwischen der sogenannten gemeinsamen Regierung und den Sonderregierungen besteht nicht. Die organische Einheit ruht nur im Monarchen. Die gemeinsame Regierung ist eine konstitutionell fast vollständig indifferente Einrichtung.

Der durch das Bedürfnis der Wiedergewinnung der historischen Stellung des Monarchen in Deutschland geförderte Drang zur Beschleunigung des Friedens mit dem ungarischen Volke hat bewirkt, dass der verfassungsrechtlich begründeten und wiederholt durch den Monarchen anerkannten Rechtsstellung Kroatiens als eines mit Ungarn paritätischen Paziszenten nicht Rechnung getragen und die Auseinandersetzung des engeren ungarischen Reichstages mit dem kroatischen Landtag als eine interne Angelegenheit der Länder der ungarischen Krone behandelt wurde. Sie erfolgte durch den ungarischen G.A. XXX: 1868 und den kroatischen G.A. I 1868, den sogenannten ungarisch-kroatischen Ausgleich, der zwar dem um den österreichischen Teil verkürzten Königreich Kroatien, Slavonien, Dalmatien die äusseren Attributs eines Gliedstaates der Union der Länder der Stefanskrone verleiht, die Bedingungen seiner wirtschaftlichen Entwicklung aber allenthalben unterbindet.

Der österreichische Reichsrat hat eine kurze Blütezeit erlebt, während deren er mittels des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, betreffend die Änderung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung die fundamentale konstitutionelle Organisation der nichtungarischen Ländergruppe, soweit für sie nach dem ungarischen Ausgleich Raum blieb, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Reichsrat und den Landtagen vollzogen, mittels weiterer Staatsgrundgesetze und einfacher Gesetze die Herstellung der durch das Konkordat vom 18. August 1855, wenn nicht verloren gegangenen so mindestens erheblich geschmälerten staatlichen Souveränität gegenüber der katholischen Kirche herbeigeführt, und bedeutsame, leider nicht mehr fortgebildete Ansätze zum Aufbau des Gemeinwesens auf rechtsstaatlicher Grundlage geschaffen hat. Nach dieser Kraftleistung, der keine ebenbürtige mehr nachgefolgt ist, beginnt der Verfall des parlamentarischen Lebens, den weder die erfolgreiche Abweisung des vom Grafen Hohenwart geförderten Versuchs der Wiederherstellung des böhmischen Staats in der technisch nicht vollziehbaren Form der von einer Kommission des böhmischen Landtags im

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/433&oldid=- (Version vom 22.8.2021)