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Oktober 1871 beschlossenen Fundamentalartikel, noch die Einführung der direkten Wahlen in den Reichsrat an Stelle jener durch die Landtage mittels der Wahlreform vom 2. April 1873, noch endlich, die fortschreitende, durch die Wahlreform vom 26. Jänner 1907 bis zum allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts geführte Demokratisierung des Wahlrechts aufzuhalten vermocht hat.

Der Grund für diese ungünstige Entwicklung ist ebensowohl in den Hemmungen zu erblicken, die der parlamentarische Dualismus einer naturgemässen Ausbildung des Konstitutionalismus in beiden Ländergruppen der Monarchie bereitet, als auch darin, dass der nationale Gegensatz zwischen Deutschen, Slaven und Romanen, der Gegensatz zwischen dem magyarischen Nationalstaat und der Bewegung zur Anerkennung der Gleichberechtigung aller Nationalitäten der Monarchie alle anderen parteipolitischen Gegensätze in den Hintergrund drängt. So müssen die Regierungen bei der Lösung staatlicher Kardinalfragen die sachlichsten Erwägungen der Forderung der Sicherung der Majorität für die von ihnen mühsam hergestellten Entwürfe der periodisch zu erneuernden Auseinandersetzung beider Ländergruppen über ihre vitalsten Interessen opfern, bei denen die unsterblichen staatsrechtlichen Gravamina aus dem Titel des magyarischen Nationalstaates eine grosse Rolle spielen, während die politischen Parteien ihre Stellung zu jeder beliebigen Frage darnach einrichten, welche nationale Konzessionen sie für eine gouvernementale Haltung zu gewärtigen haben? Darum kann sich eine auf das Ganze gerichtete Politik, die – sie sei gut oder schlecht – Voraussetzung eines wahrhaften Konstitutionalismus bildet, nicht entwickeln und das politische Leben erhält einen peinlichen Zug von Kleinlichkeit, Unaufrichtigkeit, Unzuverlässigkeit und Schwäche sowohl der Regierungen als auch der politischen Parteien, die sich im Besitze der erlangten Zugeständnisse gerne ihrer unsachlichen Zusagen entledigen möchten. Darum auch die wechselseitigen Vorwürfe unterlaufener Illoyalität. Dazu kommt noch, dass das Zentralparlament in den Landtagen von Böhmen und Galizien, trotzdem diesen die Zuständigkeit zur Geltendmachung der konstitutionellen Verantwortlichkeit der staatlichen Landesregierungen abgeht, wenn sie funktionsfähig sind, seine Autorität beschränkende Rivalen besitzt. Es kann nicht Wunder nehmen, wenn staatliche Verwaltung und Selbstverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Gesetzgebung, die aus Kompromissen mit politischen Eintagskombinationen hervorgeht, ihre eigenen Wege gehen, um nicht blosse Schergen des krassesten Egoismus und der hinterhältigsten Parteipolitik zu sein, die sich in einem Momente zufällig in der Form der Gesetzgebung durchgesetzt hat. Gegenüber den unleugbaren Talenten, die alle Nationen der Monarchie zu Beginn der konstitutionellen Epoche für den parlamentarischen Dienst beigestellt haben, bietet uns die moderne parlamentarische Welt der Monarchie das Bild eines die Vorfahren an wirtschaftlichen, historischen und sozialen Kenntnissen überragenden aber politisch recht mittelmässigen Geschlechts, was bei dem Umstande, als auch das aristokratisch-oligarchische ungarische Parlament im Gegensatz zu seiner ruhmvollen Vergangenheit keine imponierende, grosszügige, mitreissende staatsmännische Persönlichkeit aufzuweisen vermag, mit der Demokratisierung des Wahlrechts nicht erklärt werden kann. Es muss dahin gestellt bleiben, ob hier nicht politische Skepsis und Illusionsunfähigkeit eine grosse Rolle spielten. Allenthalben bildet, die Obstruktion, die ödeste und mit der geringsten Geistesarbeit herzustellende Form der Opposition, das wichtigste parlamentarische Kampfmittel und nagt an den Wurzeln des doch ohnedies kümmerlichen Konstitutionalismus. Das österreichische Abgeordnetenhaus gelangt vor lauter nationalen Debatten und Obstruktionen nicht einmal zur ordnungsmässigen Wahrung seiner budgetären Befugnisse. Schon hat die Krankheit der funktionellen Lähmung den böhmischen Landtag erfasst und bedroht auch den galizischen. Alle diese Erscheinungen legen den Charakter der Monarchie als eines für eine wahrhaft konstitutionelle Gestaltung wenig geeigneten, wesentlich monarchischen Gemeinwesens auf. Ob die Persönlichkeit des Monarchen gross oder klein ist, das funktionelle Element der monarchischen Gewalt füllt alle Lücken des Rechtes aus, die der blind wütende Kampf der Nationen reisst oder die die Nationen, soweit sie von vornherein gegeben sind, von sich aus nicht auszufüllen vermögen. Der Kaiser hat dem ungarischen Landtage die Auflage der Revision der 1848er ungarischen Verfassung gemacht, das von ihm genehmigte Revisionsergebnis als unüberschreitbare

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/434&oldid=- (Version vom 22.8.2021)