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Form aufzudecken. Man weiss, dass das Lehenswesen erst dadurch vollständig wird, dass sich mit der Übertragung von Grund und Boden an den belehnten Beamten seinerseits ein besonderer Eid gegenüber der Regierungsgewalt, in den meisten Fällen dem Herrscher, verknüpft. Diese Konstruktion ist insofern eigentümlich, als wir hier für ein wichtiges Verhältnis des Staatsrechts ein durchaus sittliches Motiv, das des Treugelöbnisses, eingespannt finden. Das Rätsel löst sich durch einen Blick auf die Sittengeschichte. Wir befinden uns in einer Zeit psychologischer Entwicklung, die man als typisches Zeitalter bezeichnen kann, und in der die heutigen scharfen Gegensätze zwischen Sitte und Recht noch nicht bestehen, vielmehr alle sittlichen Begriffe noch so gebunden erscheinen, dass ihnen in bezug auf die beiden Personen, welche bei ihnen jeweils in Frage kommen, der Zwang der Reziprozität, ja der vertragsmässigen Gegenseitigkeit innewohnt. In einem Zeitalter von einer solchen Gebundenheit der sittlichen Begriffe versteht es sich ohne weiteres, dass einer dieser Begriffe, der der Treue, direkt in den Mittelpunkt und das eigentliche Herz der staatlichen Entwicklung und Konstruktion des öffentlichen Rechts treten kann, derart, dass er für den ganzen Staat dieser Zeit das eigentlich Charakteristische ist.

Freilich werden wir später sehen, dass diese Erscheinung, die auf den ersten Blick befremdend wirken kann, doch keineswegs eine Ausnahmeerscheinung ist. Immer und überall ist der Staat nichts, als die soziale Reflexbildung des besondern Charakters der jeweils vorhandenen psychologischen Persönlichkeit des Einzellebens.

Der reguläre Lehensstaat ist in Europa am besten in den westlichen Staaten entwickelt worden. Hier vereinigten sich Landübertragung und Treueid im Bereiche verhältnismässig kleiner Herrschaften zu einer teilweise überaus wohlgegliederten, architektonisch von unten her das Ganze bis oben hin umfassenden Form, sodass wenigstens in der Rechtstheorie der Satz „nulle terre sans seigneur“ ausgebildet werden konnte. Tritt damit hier der mittelalterliche Staat in vollendeter Form auf, so ist dafür wohl vor allem die Kleinheit der Staatswesen, die sich bildeten, von Bedeutung gewesen. Mit der Lehensverwaltung lassen sich weit ausgedehnte Territorien nur sehr schwer beherrschen, denn die für eine solche Herrschaft notwendigen Verkehrsmittel und namentlich die Regelmässigkeit der Wirksamkeit solcher Mittel ist naturalwirtschaftlichen Zeiten im allgemeinen versagt. Mit dieser regulären und glücklichen Fortbildung der mittelalterlichen Staatsform hängt es zusammen, dass die westlichen Staaten Europas denn auch einen sehr ruhigen und glücklichen Übergang zu der absoluten Monarchie des 15.–18. Jahrhunderts erlebt haben. Der absolute Staat dieser Zeit stellt sich zu dem Lehensstaat nicht anders als der urzeitliche Absolutismus zu der ihm vorhergehenden Demokratie. Er ist in gewissem Sinne eine Fortbildung, insofern nämlich die neuen politischen Motive, denen er verdankt wird, aus dem älteren Staatswesen, ohne dass dieses ganz zerstört wird, organisch hervorwachsen und eigentlich nur einer stärker eintretenden Individualisierung der einmal vorhandenen Kultur verdankt werden. Im 14. und 15. Jahrhundert ist allerdings diese Individualisierung sehr beträchtlich gewesen, und es ist bekannt, wie in dieser Zeit langsam die Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft abgelöst zu werden beginnt, und wie schon vor diesem Prozesse sich die Entwicklung zwischen agrarisch arm und agrarisch reich in der Durchbildung der Grundherrschaft des 13. und 14. Jahrhunderts herausgestellt hatte. Diese starken Motive des Wirtschaftslebens reflektieren dann in dem höheren Geistesleben in dem, was man wohl als Individualismus der neuen Zeit gegenüber der sogenannten Gebundenheit des Mittelalters zu bezeichnen pflegt. Inwiefern damit der Übergang zur absoluten Monarchie verknüpft ist, wird weiter unten geschildert werden.

In Deutschland ist der Verlauf der lehensstaatlichen Periode kein so normaler gewesen, wie im westlichen Europa. Anfangs allerdings, im 8. bis 10. Jahrhundert, schien der Lehensstaat gerade in Deutschland besonders kräftig entwickelt zu sein. Im Grunde aber handelte es sich dabei mehr um eine Fortdauer des urzeitlichen Absolutismus, der durch die Idee des Kaisertums noch einmal besonders befruchtet wurde, und eine Indienststellung des Lehensgedankens in die herkömmlichen Verwaltungsgleise dieses Absolutismus, als um eine klare rasch zu völlig bestimmter Auffassung führende Durchbildung des Lehenswesens. Unter diesen Umständen stellte sich nachher, im 12. und 13. Jahrhundert, heraus, dass die nun nicht mehr aufzuhaltende Durchführung des Lehensstaates den alten Absolutismus allerdings zu zerstören imstande war, nicht aber die Kraft

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/44&oldid=- (Version vom 1.7.2021)