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hervorgehen zu lassen. Schliesslich kommt 1827 das Ministerium Martignac ans Ruder, einfach als Ausschuss der damaligen Parlamentsmehrheit aber 1829 ist dies beim Neuantritt des Ministeriums Polignac nicht der Fall. Jetzt tritt die Deputiertenkammer mit ihrer berühmten Adresse der 221 hervor, und hierin wird dem Könige die unumstössliche Notwendigkeit verkündet, das jeweilige Ministerium der jeweiligen Parlamentsmajorität zu entnehmen: „car eile fait du concours permanent des vues politiques de votre peuple, la condition indispensable de la marche régulière des affaires politiques“ (Archives parl. t. 61 p. 618). Was die Bourbonen zu tun versäumten, besorgte das Julikönigtum pünktlich. So ist auch in Frankreich die parlamentarische Regierung als ein Produkt der parlamentarischen Praxis entstanden. Gerade die Entwicklung in Frankreich zeigt, dass die Herausbildung eines Ministerkabinetts, das aus der Parlamentsmajorität entnommen werden müsste, nicht das Wesen der parlamentarischen Regierung ausmacht, bildet sie doch gerade in Frankreich die Schlussphase der Entwicklung. Wäre diese Schlussphase das Wesen der parlamentarischen Regierung, dann müsste es ja sehr leicht sein, sie verfassungsmässig festzulegen mit der Gewähr, die parlamentarische Regierung sofort zu verwirklichen. Tatsächlich ist in keiner Verfassung, deren Staat parlamentarisch regiert wird, die parlamentarische Regierung angeordnet.

Eine Ausnahme hiervon machen scheinbar die englischen Selbstverwaltungskolonien, in deren Verfassungen die Notwendigkeit vorgeschrieben ist, dass die Minister einem der beiden Häuser des Parlaments angehören müssen. Aber diese Kautel ist deswegen in die Verfassung eingefügt, um dem Mutterland gegenüber eine Schranke aufzuerlegen, keineswegs aber so gedacht, dass man mit der Anordnung des parlamentarischen Ministerkabinetts das Wesen der parlamentarischen Regierung erschöpfen wollte. Der beste Beleg dafür, dass das parlamentarische Ministerkabinett nicht das Wesen der parlamentarischen Regierung ausmacht, ist ferner die Tatsache, dass Staaten, welche ein solches Ministerkabinett besitzen, zu einer echten parlamentarischen Regierung mitunter nicht zu gelangen brauchen, sondern nur einen Scheinparlamentarismus entwickeln. Hierher gehören die Balkanstaaten und Spanien. Hier beruft der König nach seinem Willen abwechselnd die Führer der um die Staatsherrschaft streitenden Parteien zu Ministern und diese machen nach ihrem Willen die Parlamentswahlen und nach ihrem Willen die Parlamentsmajorität, die sie für ihr autokratisches Vorgehen brauchen.[1]

Auch in einem anderen Staat, der sich bisher von der parlamentarischen Regierungsweise nach englischem Muster ferngehalten hat, können wir die allmähliche Umbildung der Verfassung durch die Parlamentspraxis beobachten, die schliesslich auch hier zu parlamentarischer Regierung führen wird. Es ist Schweden. Die Verfassung dieses Staats von 1809 beruht auf einem Dualismus, der von den Urhebern der Verfassung konsequent durchgeführt wurde.[2]

Monarch und Reichstag stehen sich hier gleichberechtigt gegenüber. Jedes Organ selbständig und mit einer eigenen Kompetenz ausgerüstet. Die Handlungsfreiheit und Machtvollkommenheit des Reichstags ist ausserordentlich gross. Ihm steht insbesondere die ausschliessliche Feststellung des Budgets zu, und wer aus der Verfassungsgeschichte weiss, wie wichtig diese Machtvollkommenheit sowohl im Staatsleben Englands und anderer Staaten geworden ist, wird die Bedeutung dieser Machtvollkommenheit gewiss nicht unterschätzen. Auch der Monarch hat wieder seine vom Reichstag vollständig getrennte Machtssphäre, insbesondere ein umfassendes Verordnungsrecht (praeter legem) in sogenannten ökonomischen Angelegenheiten. Was dazu gehört, ist nicht ausdrücklich im Gesetze vorgeschrieben. (§ 89 der Verfassung). Man kann den Begriff nur ungefähr umschreiben wie z. B. § 34 der Reichstagsordnung von 1810 als das. „was zu der allgemeinen Haushaltung des Reiches und zu den öffentlichen Einrichtungen wie Erziehungs- und Unterrichtswesen, allgemeine Armenpflege, Ackerbau, Bergwerke usw. gehört.“ Auf dem Gebiete der bürgerlichen und Strafgesetze wie auch der militärischen Strafgesetze der Kirchen- und Gemeindegesetze müssen hingegen Reichstag und König zusammenwirken (§ 87 und § 57 der Verfassung).


  1. Siehe für Spanien Costa, Oligarquia y Caciquismo 1903 p. 14 und Posada im Jahrbuch des öffentlichen Rechts Bd. II S. 448 ff.
  2. Siehe darüber Fahlbeck, Die Regierung Schwedens 1912, insbesondere Einleitung.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/441&oldid=- (Version vom 23.8.2021)