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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Der König wählt seine Minister ausschliesslich nach eigenem Gutbefinden. Sie sind seine Vertrauensmänner, nicht die des Reichstags. Sie beraten den König im Staatsrat, können aber, wenn sie bei Abgabe ihres Rates „nicht die wahren Interessen des Landes wahrgenommen haben“, vom Verfassungsausschusse dem Reichstage angezeigt werden, welcher hierauf an den König die schriftliche Bitte richtet, die betreffenden Minister ihrer Stellen im Staatsrat zu entheben. (§ 107 der Verfassung.) Desgleichen können sie auf Veranlassung des Verfassungsausschusses, der die Staatsratsprotokolle zu prüfen hat, durch den Justizanwalt des Reichstags vor dem Reichsgericht angeklagt werden, wenn sie offenbar gegen das Grundgesetz oder gegen andere Gesetze gehandelt oder eine Übertretung dieser Gesetze angeraten oder Vorstellungen gegen eine solche Uebertretung zu machen versäumt haben u.a. m., insbesondere wenn sie es versäumt haben, ihre Gegenzeichnung zu einem rechts- oder verfassungswidrigen Beschlusse des Königs zu verweigern (§ 106 der Verf.).

Trotzdem nun dieser Dualismus verfassungsmässig festgelegt worden ist, zeigt sich auch hier, dass die Parlamentspraxis bereits ihre Verfassungsumbildungen in wichtigen Punkten vorgenommen hat, welche die oberste Leitung des Staatswesens mit der Zeit ganz in die Hände des Reichstags insbesondere der 2. Kammer (Volksvertretung) spielen werden.[1] Schon das ausschliessliche Budgetrecht des Reichstags ist eine wesentliche Voraussetzung dieser Verfassungsumbildung durch die Reichstagspraxis, und gibt, sowie es nach der Verfassung besteht, der zweiten Kammer eine überragende Stellung, insofern bei Widerspruch zwischen beiden Kammern inbezug auf die Beschlüsse, die zur Etatsregelung führen, zwar jede Kammer für sich abstimmt, aber diejenige Meinung durchdringt, für welche die zusammenzurechnenden Stimmen der meisten Mitglieder der beiden Kammern abgegeben worden sind. (§ 65 der Reichstagsordnung.) Da die zweite Kammer nun eine grössere Anzahl von Mitgliedern hat als die erste, etwa 230 gegen 150, so nimmt die zweite Kammer in Budgetfragen eine Vorrangstellung ein.[2] Dazu kommt noch, dass die Parlamentspraxis eine Reihe von Umbildungen an dem bestehenden Recht durchgeführt hat. Zunächst hat über die Verfassung hinaus die Praxis ein Motionsrecht der einzelnen Reichstagsabgeordneten in Fragen des Voranschlags eingebürgert, während die Verfassung nur die königliche Initiative in diesen Fragen voraussetzt. Sodann ist durch die Parlamentspraxis eine weitgehende Spezialisierung der Voranschlagsposten herbeigeführt, welche den König hindern, auch innerhalb der Haupttitel des Etats über die Verwendung der Summen zu entscheiden. Auch über Ersparnisse, welche bei einem Etatposten gemacht werden, darf der König, trotzdem die Verfassung dem nicht entgegensteht, nicht frei verfügen, denn auf diesem Gebiete hat bereits der Reichstag durch ein Schreiben vom 12. Mai 1841 bestimmt, dass Ersparnisse, welche innerhalb des ein oder anderen Haupttitels gemacht werden, zu solchen von den Reichsständen nicht geprüften Ausgaben für Zwecke innerhalb des Titels nur dann zu verwenden sind, wenn diese Zwecke durch ein unabweisliches Bedürfnis hervorgerufen sind und zufälligen Charakter haben. Nicht darf jedoch der König solche Ersparnisse zur Bestreitung von jährlichen Gehältern etc. verwenden. Ueber die Verfassung hinaus hat sich in der Praxis der Grundsatz etabliert, dass der Reichstag jede Finanzeinnahme bewilligen und insbesondere zwischen den verschiedenen Besteuerungsformen nach freiem Ermessen zu wählen in der Lage ist.

Nicht bloss aus dem Gebiete des Etatwesens, sondern auch auf dem nach der Verfassung scharf abgegrenzten Gebiete königlicher Machtvollkommenheit macht sich die Reichstagspraxis im Sinne einer Einengung königlicher Prärogative geltend, ohne dass von seiten der Krone Widerstand erhoben wird.[3]

Drei Vorstösse hat in neuerer Zeit der Reichstag über den Rahmen der Verfassung hinaus vorgenommen. Der vom Reichstag bestellte Justizanwalt (Justitieombudsman) begnügt sich nicht damit (§ 99 der Verf.), „wenn er es für nötig hält, den Beratungen und Urteilsfindungen des Höchsten Gerichtshofes, des Oberverwaltungsgerichts, der niederen Justizrevision, der Hofgerichte, der Verwaltungskollegien oder der an ihrer Stelle eingerichteten Verwaltungsbehörden und aller unteren


  1. Siehe darüber und z. folgenden Fahlbeck Statsvetenskaplig Tidskrift 1904 VII p. 98 ff. und Reuterskiöld, ebendort Bd. XIV (1911) p. 297 ff.
  2. Siehe darüber und zum Folgenden Otto Varenius, Das schwedische Budgetrecht in der Festgabe für Kohler, Stuttgart 1909 S. 186 ff.
  3. Siehe darüber Reuterskiöld am oben angeführten Ort Bd. XIV S. 301 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/442&oldid=- (Version vom 24.8.2021)