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Gerichtshöfe beizuwohnen, ohne jedoch das Recht zu haben, seine Meinung dabei zu äussern“, oder was ihm ebenfalls die Verfassung gestattet, in die Protokolle der Behörden einzusehen, sondern er geht über den Rahmen der Verfassung hinaus und schreibt, wenn er anlässlich dieser Prüfung Missstände entdeckt, den Behörden die in Frage kommen, direkt vor wie sie es machen müssten.

Nach § 46 der Reichstagsordnung[1] soll ein Ausschuss des Reichstags, der von einer Staatsbehörde Aufklärung wünscht, diesen Wunsch durch seinen Vorsitzenden dem jener Behörde vorgesetzten Staatsratsmitglied übermitteln, auf dass der König den Auftrag gebe, die nötigen Mitteilungen dem Reichstagsausschuss zukommen zu lassen. In der Praxis hat sich nun ein direkter Verkehr zwischen den Reichstagsausschüssen und den Verwaltungsbehörden herausgebildet. Nunmehr macht aber der Reichstag trotz des § 46 den Anspruch und zwar nicht ohne Erfolg geltend, dass die von einem Ausschuss verlangte Auskunft direkt von der Verwaltungsbehörde (also ohne Vermittlung des Staatsrats und des Königs) abgegeben werden müsse. Nicht der gute Wille der Behörde, sondern eine bestehende Rechtspflicht soll massgebend sein. Schliesslich ist das Interpellationsrecht, wie es sich in der Gegenwart in Schweden entwickelt, weit über den Rahmen der Verfassung, in der es eine nur untergeordnete Rolle spielt, hinausgewachsen und wird insbesondere dazu verwendet, um der Staatsverwaltung Direktiven zu erteilen, die eigentlich nur dem Könige zustehen.[2]

Dies sind alles Anzeichen, dass die parlamentarische Regierungsweise bereits im Anzuge ist. Ob sie schliesslich in ein parlamentarisches Ministerkabinett ausmünden wird, hängt natürlich wie auch anderswo davon ab, ob grosse Parteien an Stelle der vier bestehenden einen massgebenden Einfluss im Staate gewinnen, also von sozialen Momenten. Aber das parlamentarische Ministerkabinett ist kein wesentliches Merkmal der parlamentarischen Regierung, sondern einzig und allein die Tatsache, dass der Wille der Volksvertretung in den wichtigsten Staatsfragen, insbesondere in der Verfassungsumbildung sich durchsetzt. Und in diesem Sinne geht Schweden sicherlich der parlamentarischen Regierung entgegen, wenn es sie nicht schon hat.

III. Parlamentarische Regierung und Staatsform.

Die parlamentarische Regierungsweise bildet keinen Verfassungstypus, sondern ist eine Regierungsform, welche sich den beiden bestehenden Verfassungsformen der Monarchie wie der Demokratie anzupassen weiss. Es gibt parlamentarische Monarchien und parlamentarische Demokratien. Es gibt auch parlamentarischregierte Bundesstaaten, z. B. Australien. Die Rechtsinstitute, welche die parlamentarische Monarchie im Gegensatz zur konstitutionellen verwenden, sind folgende:

Zunächst ist die parlamentarische Monarchie nicht an die Dreiteilung der Staatsgewalt gebunden.

Im Gegenteil. Sie ignoriert sie. Das Parlament besorgt mitunter Funktionen der Verwaltung z. B. die Setzung von Rechtsverordnungen oder von Verwaltungsverordnungen. So werden in England z. B. die Grundsätze für die Theaterzensur durch das Unterhaus genehmigt (siehe mein englisches Staatsrecht II S. 515). Auf dem Wege der Private acts nimmt das Unterhaus die Verleihung von Expropriationsberechtigungen, Gewerbekonzessionen u. a. m. vor. (Siehe darüber m. engl. Staatsrecht I S. 566 ff.). Bei der Feststellung des Budgets und der Rechnungslegung übt das Parlament nicht bloss Kontrolle der Verwaltung, sondern Verwaltungstätigkeit aus. Einerseits nimmt das Parlament noch vor der Gesetzvollendung des Budgets Anweisungen von Geldern für die laufende Verwaltung und Aenderungen der Finanzquellen auch während des Verwaltungsjahres vor, so dass die endgültige Feststellung des Staatshaushalts nur die formelle Sanktion der durch das Parlament geübten Verwaltungstätigkeit darstellt. Bei der Rechnungslegung beschränkt sich das Parlament nicht, wie in der konstitutionellen Monarchie, auf


  1. S. darüber Varenius im XII. Jahrgg. der Statsvetenskaplig Tidskrift (1909) p. 156. ff.
  2. Reuterskiöld a. a. O. Bd. XIV S. 307 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/443&oldid=- (Version vom 24.8.2021)