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die Frage, ob die Staatsausgabe rechtmässig gemacht, sondern greift weiter, ob sie auch zweckmässig erfolgt sei. Bei der Ausübung des Interpellationsrechts beschränkt sich das Parlament nicht bloss auf die Kontrolle der Verwaltung, sondern erteilt ihr direkt durch motivierte Tagesordnungen u. a. m. Weisungen für die Zukunft.

Dem Parlament steht gewöhnlich ein Enquêterecht durch vom Parlamente eingesetzte Kommissionen zu, welche das Recht erhalten, Zeugen auch unter Eid zu vernehmen (so in England, Belgien, Ungarn, Italien, Niederlanden, Dänemark). Die Ministerverantwortlichkeit wird nicht bloss in der scharfen Form der Ministeranklage, sondern in der einfacheren aber darum nicht minder wirksamen Form der Misstrauensvoten geltend gemacht. Schliesslich wird die in allen Staaten unentbehrliche Verwaltungsroutine der Behörden der Parlamentspraxis untergeordnet. (Siehe mein allgem. Staatsrecht Bd. I S. 47.)

Während die parlamentarische Regierung in der Monarchie hauptsächlich den Zweck hat, den Willen des Unterhauses in zweifelhaften Fragen gegenüber dem Königtume zum Durchbruch zu bringen, ist der ausgesprochene Zweck der parlamentarischen Regierung in der Demokratie dem Willen des Volks in allen entscheidenden Staatsfragen zur Geltung zu bringen. Die parlamentarische Demokratie, wie sie z. B. in Frankreich und in einigen südamerik. Republiken[1] (z. B. Chile) herrscht, unterscheidet sich sehr wesentlich einerseits von der unmittelbaren, anderseits von der Gewalten trennenden Monarchie.

Die unmittelbare Demokratie ist diejenige, wo das Volk selbst, nicht durch Repräsentanten, die wichtigsten Staatsfunktionen in Gesetzgebung und Verwaltung ausübt, wo insbesondere die gesetzgeberischen Funktionen und manche Akte der Verwaltungstätigkeit durch das Referendum dem Volksentscheid zugeführt werden. Diese Form der Demokratie wie sie in der Schweiz verwirklicht ist, steht im Gegensatz zur Repräsentativdemokratie, welche entweder eine gewaltentrennende ist, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, oder eine parlamentarische. Die Hauptunterschiede dieser beiden Arten, der Repräsentativdemokratie gehen auf den Grundzug der Gewaltentrennung zurück, nämlich die scharfe Sonderung der gesetzgebenden, exekutiven und richterlichen Gewalt.

In der gewaltentrennenden Demokratie haben die Minister gewöhnlich nicht Zutritt zur Legislatur und nicht freies Wort in ihrer Mitte. Das Gegenteil ist in der parlamentarischen Demokratie die Regel. Schliesslich hängen infolge der Gewaltentrennung die Minister in der Demokratie, in welcher dieser Grundsatz durchgeführt ist, keineswegs, wie in der parlamentarischen Demokratie von einer Vertrauens- oder Misstrauenskundgebung einer oder beider Kammern des Parlaments ab.

In der gewaltentrennenden Demokratie wacht die richterliche Gewalt über jede Ausschreitung der anderen Gewalten, in der parlamentarischen Demokratie ist eine solche Vorrangstellung der richterlichen Gewalt nicht gegeben. Der Träger der Volkssouveränität ist die Volkskammer und sie kann sich jede Ausschreitung ungerügt gestatten, da ihr Wille im Sinne der parlamentarischen Regierungsweise in allen Fragen (nicht bloss in zweifelhaften, wie in der parlamentarischen Monarchie) den Ausschlag geben muss. Zwar hat auch in der parlamentarischen Demokratie der Chef der Exekutive ein Auflösungsrecht gegenüber der Volkskammer, aber dieses „droit de dissolution“ hat keinen Korrektivzweck, sondern soll die Möglichkeit gewähren, die Volkskammer zu einem wirklichen Vertreter des Volks zu machen.

Die parlamentarische Regierung kann nach dem Vorhergehenden nur die Vorrangstellung eines Organs, nämlich der Volkskammer bedeuten. Die parlamentarische Regierung kann auch nur eine einheitliche sein, ein sogenannter dualistischer Parlamentarismus,[2] der noch immer parlamentarische Regierung sein soll und aufgebaut ist auf der Gleichrangstellung von Parlament und Königtum ist eine contradictio in adjecto. Denn der Begriff der Regierung verlangt Einheitlichkeit. Ebenso der Begriff der parlamentarischen Regierung.




  1. Vergl. dazu A. Soubies u. E. Carette, Los republiques parlamentaires, Paris 1902.
  2. Einen solchen postuliert Fahlbeck, Sveriges författning och den moderna parlamentarismen 1904.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/444&oldid=- (Version vom 24.8.2021)