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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Ablehnung des Budgets die Fassung gegeben hatte: diese Finanzvorlage müsse dem Volk zur Bestätigung vorgelegt werden, ehe das Oberhaus ihr zustimmen könne. Aus dieser Wendung hat sich, in den Reden der Parteiführer deutlich verfolgbar, die Theorie gebildet, das Oberhaus habe die Aufgabe, Überrumpelungen des Volks durch die Unterhausmehrheit und das Kabinett zu hindern. Lehne das Oberhaus eine im Unterhaus angenommene Vorlage ab, so geschehe das nur in der Meinung, dass die Regierung nun (beim jetzigen System durch Auflösung und allgemeine Wahl, künftig durch Referendum) das Volk solle befragen können (oder müssen); seinem Votum werde sich das Oberhaus fügen. Aus dieser Auffassung heraus ergibt sich ungezwungen das Referendum als eine Art der Lösung für den möglichen Konflikt zweier gleichgeordneter Kammern; der Unterschied und Fortschritt gegenüber der jetzigen Lage, in der aus dem Konflikt nur die Befragung der Wähler in allgemeinen Wahlen oder das höchst zweifelhafte Mittel des Pairsschubs herausführen kann, liegt darin, dass beim Referendum den Abstimmenden statt eines ganzen Parteiprogramms mit der Zutat lügnerischer Versprechungen und taktischer Winkelzüge eine klare Gesetzgebungsfrage zur Entscheidung vorgelegt wird und dass auch das Kabinett in die Lage kommt, sich vor einem ihm ungünstigen Volkswillen zu beugen und trotzdem die Geschäfte weiterzuführen, also sich wieder mehr als Diener des Staats denn als seine Lenker zu fühlen; vor allem aber ist die Gewalt, mit der das Referendum auf die politische Erziehung der Staatsbürger drängt, zu seinen Gunsten ins Feld zu führen, zumal in einem Land, in dem die Menge im Politischen so unreif, so sehr der Phrase des Augenblicks hingegeben und der Massenbestechung zugänglich ist, wie in England.

Indessen zeigt die englische Krise auch besonders deutlich, dass die Frage: Ein- oder Zweikammersystem? überhaupt nicht absolut gestellt werden darf, sondern für jede Regierungsform ihre eigene Bedeutung hat. In der ungeheuren Fülle von Argumenten und Plänen, die dort während der letzten drei Jahre aufgetaucht, diskutiert worden und schliesslich zu Gunsten der Vetobill zurückgetreten sind, ist kein einziges zu finden, mit dem man auch nur vergleichsweise bei einer kontinentalen Verfassungskrise operieren könnte; sie waren durchweg so spezifisch englisch, wie die jetzige Regierungsform des Königreichs selbst es ist, von der zwar der Premierminister in einer Rede in Manchester am 6. Mai 1911 zu rühmen wusste, dass sie die Bewunderung und Nachahmung der ganzen Kulturwelt gefunden habe, die aber in Wirklichkeit genau so wenig irgendwo ausserhalb des englischen Reichs nachgeahmt worden ist oder nachgeahmt werden konnte, wie etwa die englische Gerichtsverfassung oder die englischen Universitäten des alten Stils.

Die parlamentarische Regierungsform im heutigen England hängt mit dem Zweiparteiensystem unlösbar zusammen. Sie bedeutet praktisch ganz Verschiedenes für die Zeit bis zur vollendeten Bildung eines Kabinetts und für die Zeit der Führung der Geschäfte durch das gebildete Kabinett. Für jene Zeit der Bildung eines Kabinetts bedeutet sie die Herrschaft der Parteimitglieder, der Abgeordneten und Agenten, der Wahlfondszeichner und bis zu einem gewissen Grad der Wähler selbst; die Partei wählt sich ihren Führer, hat es in der Hand, ihm zu folgen oder ihn zu zwingen, dass er ihr folgt oder abdankt; er muss sich seinen Stab, aus dem sich sein künftiges Kabinett bilden wird, nicht als eine Auslese der besten, sondern der einflussreichsten und in ihrer möglichen Missstimmung gefährlichsten Abgeordneten wählen. Ist dagegen bei einer allgemeinen Wahl oder durch eine Mehrheitsverschiebung im Parlament die Partei dazu berufen worden, die Regierung zu stellen und dadurch ihr gewählter Führer zum Premierminister und sein Stab zu Kabinettsministern geworden, so bedeutet die parlamentarische Regierungsform die Herrschaft des Kabinetts über die Partei wie über das Land, da es zur festen Gewohnheit geworden ist, dass das Kabinett jede wesentliche Änderung seiner Vorlagen im Unterhaus als Misstrauensvotum und Anlass zur Resignation zu betrachten vorgibt, jedes Votum gegen die Regierungsvorlage auch nur in einem Spezialpunkt also für den Abstimmenden nicht nur den Verlust der Regierungs-Patronage bedeutet, (von der er zufälligerweise persönlich unabhängig sein kann) sondern die ziemlich sichere Aussicht auf den Verlust seines Mandats selbst, und jedenfalls die Notwendigkeit eines Wahlkampfs und der dazu nötigen Bearbeitung des Wahlkreises. Als selbständige Mächte im öffentlichen Wesen stehen dann dem Kabinett nur die Gerichte und die ständige Bureaukratie entgegen, die deshalb auch beide gerade in jüngster Zeit wegen vereinzelter Akte der Insubordination gegen die Politik des Kabinetts von den Anhängern des herrschenden Systems scharf angegriffen wurden; ausserdem mehren sich

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/447&oldid=- (Version vom 25.8.2021)