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die Fälle, in denen politische Parteigänger aus taktischen Gründen auf die höheren Stellen der Justiz und Verwaltung gesetzt werden.

Bei einer solchen Regierungsform liegt das Problem: Ein- oder Zweikammersystem? doktrinär wie praktisch verhältnismässig einfach. Doktrinär: denn die Notwendigkeit einer Kammer, deren Mehrheit vom Kabinett ebenso unabhängig ist, wie die Mehrheit der andern Kammer abhängig, liegt auf der Hand, sofern man nicht zur Kabinettsregierung Kabinettsjustiz und Kabinettspatronage in unbeschränkter Gewalt haben will; dazu kommt, dass dem Kabinett selbst die Existenz der andern Kammer erwünscht sein muss, zur Wahrung des Scheins parlamentarischer Einflüsse auf die Regierung. Fiele nämlich jede Hemmung gegenüber dem Willen des Kabinetts und der ihm folgenden Volkshausmehrheit fort, so wäre dieser Mehrheit in der Vergewaltigung der Minderheit schlechterdings kein Einhalt mehr zu gebieten und der Regierung jede Ausrede dafür genommen, dass nicht im ersten Jahr nach der allgemeinen Wahl schon schlechthin alle im Wahlkampf versprochenen Massregeln zum Gesetz erhoben würden. Die Forderungen, die an eine solche Hemmungskammer ihrer Zusammensetzung nach zu stellen wären, gehen also in erster Linie auf die Unabhängigkeit ihrer Mitglieder von der Parteimaschine, nebenher auf eine achtunggebietende Fähigkeit zur staatsmännischen Debatte und auf das Vorherrschen jener richterlichen Gesinnung (judicial mind), die den Schutz der Minoritäten besser als irgend ein Wahlsystem gewährleistet (denn auch das gerechtere Proportionalsystem gibt immer einer Partei oder Parteiengruppe die Mehrheit im Volkshaus und im Parlament selbst ist jede mechanische Berücksichtigung einer noch so starken Minderheit bei der Beschlussfassung unmöglich. Im besonderen ist für England zu bemerken, dass das Unterhaus, so gern es sich als Veste der Freiheit gibt, die schärfsten Geschäftsordnungsmittel gegen die Obstruktion hat, die überhaupt denkbar sind – die innere Ordnung ist fast ebenso gewaltsam und streng, wie die Beschränkungen, denen der quivis ex populo unterworfen wird, wenn er sich einfallen lässt, die „öffentlichen“ Verhandlungen des Unterhauses anhören zu wollen –; ferner, dass die von der Opposition eingebrachten Amendements zur Vetobill, die eine Mehrheit von bestimmter Grösse zu Verfassungsänderungen oder Beschlüssen über den Bestand des Reichs verlangten, schroff abgelehnt wurden, weil sie dem Geist des geltenden parlamentarischen Systems zuwidergingen. Andererseits kann ein Oberhaus immer seine Aufgabe darin erblicken, die Parteien des Volkshauses zu gesundem Kompromiss zu drängen, und besonders da, wo mehr als zwei Parteien im Volkshaus vertreten sind, seine Zustimmung zu wichtigen Neuerungen zu versagen, in denen nicht wenigstens zwei grosse Unterhausparteien zusammenstimmen).

So notwendig also doktrinär eine zweite Kammer beim englischen parlamentarischen System der Neuzeit ist, so klar ist es andererseits praktisch, dass aus diesem System selbst heraus das Kabinett, sobald ihm die zweite Kammer in richtiger Erfüllung ihrer Aufgabe die radikale Durchführung des Parteiprogramms und die rücksichtslose Handhabung der Patronage unmöglich macht oder erschwert, seinerseits auf die Beseitigung dieser Hemmung bedacht sein wird. In dem Mass, in dem sich die Hemmung verstärkt, muss auch der Wille zu ihrer Beseitigung wachsen. Das ist in einem Satz die englische Verfassungsgeschichte der letzten Periode, in der sich aber auch die heutige Regierungsform eingerichtet und befestigt hat. (Im jetzigen Konflikt ist ohne Zweifel der stärkste und auch bei den Wählern am besten durchschlagende Grund der Oberhausgegner der, dass in den Jahren der konservativen Parteiregierung jene Aufgaben vom Oberhaus völlig vernachlässigt worden seien, während es sich auf sie besinne, sobald die liberale Parteiregierung beginnt. Das ist kein „fair play“. Aber sicherlich wäre die rechte Folgerung daraus, dass man ein Oberhaus zu bilden suchte, von dem man die Wahrnehmung seiner Pflichten gegenüber beiden Parteien und jeder Regierung gleichmässig erwarten könnte; und nur wer das für völlig unmöglich hielte, dürfte die Antiveto-Politik der jetzigen Regierung mitmachen.) Gladstone hat begonnen, was von Campbell-Bannerman weitergeführt und jetzt von Asquith vollendet wird. Aber wenn das englische Oberhaus eine ebenso starke liberale Mehrheit gehabt hätte, wie es eine konservative hatte, so würde derselbe Kampf von den konservativen Kabinetten geführt worden sein, soweit sie überhaupt das jetzige Regierungssystem mitmachen. Denn sicherlich ist niemand (auch der absolute Monarch nicht) weniger geneigt und fähig, irgend eine Hemmung zu dulden, als eine kleine Oligarchie, die sioh nur durch möglichst ungehemmte Gewalt im Amt erhalten kann.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/448&oldid=- (Version vom 25.8.2021)