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dieser Vorgänge (Festgabe für Laband I 97 fgde) heisst es: „Verminderung oder Vermehrung der Befugnisse einer Kammer im Verhältnisse zu andern wird von der hierdurch betroffenen als persönliche Zurücksetzung oder Besserstellung empfunden, während doch eine ruhig erwägende, im Interesse des Staatsganzen entscheidende Politik niemals irgend ein Staatsorgan in seiner rechtlichen Stellung als eine für sich, zu ihrem eigenen individuellen Zwecke berechtigte Macht wird anerkennen dürfen. Daraus erklärt es sich, dass bei den jüngsten Verfassungsänderungen in Baden und Württemberg jede Kammer für ihre Zustimmung zum Verfassungswerk eine Gegenleistung von der andern verlangte. Bei der Ausdehnung der finanzgesetzgeberischen Befugnisse der ersten Kammer wurde immer nur die Erhöhung ihrer Machtstellung betont oder auf ihre veränderte Zusammensetzung hingewiesen, die solche Erhöhung rechtfertigt, die Frage aber, welches System der parlamentarischen Behandlung von Finanzvorlagen dem Staatsinteresse am zuträglichsten sei, nicht einmal aufgeworfen.“ Zwar haben die Ereignisse eigentümlich rasch eine Behauptung widerlegt, die im gleichen Aufsatz aufgestellt ist (S. 114: „In England mit seinen alten parlamentarischen Institutionen und der damit verbundenen parlamentarischen Sitte, sind Kämpfe zwischen beiden Häusern, die den rechtlichen Bestand der Staatsordnung selbst in Frage stellen, ganz ausgeschlossen“), aber mit seinem Schluss-Ausblick wird er wohl recht behalten: mehr und mehr werden, ausserhalb Englands, die beiden Häuser auch in der Finanzgesetzgebung materiell gleichgestellt werden und nur die, an sich gar nicht rationelle, Formalvorschrift der Priorität für die Budgetberatung der Volkskammer wird bleiben.

Neben der eben geschilderten Bedeutung der ersten Kammern in der konstitutionellen Monarchie als des Unparteiischen im möglichen Konflikt zwischen Regierung und Volksvertretung beginnt aber eine andere Rechtfertigung des Zweikammersystems sich in der Vorstellung der politisch Denkenden zu befestigen, und sie kann ebenso für republikanische Staatsverfassungen gelten wie für Monarchien.[1] Je mehr nämlich in der längeren Praxis der modernen Parlamente sich das Missverhältnis zwischen der Vertretungstheorie und der Wirklichkeit fühlbar macht, je mehr und offenbarer sich zeigt, dass durch die Wahlkreiseinteilung, die absolute Mehrheitswahl oder irgend ein Stichwahlsystem einerseits und durch die immer formalistischere starrere Gestaltung des Parteiwesens andererseits das Spiegelbild des „Volkswillens“ im Parlament verfälscht wird, je kräftiger der Gedanke der proportionalen Vertretung sich durchzusetzen strebt, desto näher wird auch die Wünschbarkeit oder Notwendigkeit einer, der Sicherheit halber, doppelten Befragung des Volks um seinen Willen gerückt. Wir bekommen zwei Kammern, die von derselben Wählerschaft, aber in verschiedener Organisation des Wahlkörpers, zu verschiedener Zeit oder auf verschiedene Legislaturperioden gewählt sind. Das lässt sich so denken, dass die eine Kammer in allgemeiner Wahl, die andere in ständischer Wahl gebildet wird, oder so dass die eine durch Mehrheitswahlen zustande kommt, die andere aber durch Proportionalwahlen in wenigen grossen Wahlkreisen, letzteres die Lösung der Home Rule Bill für die neue irische Verfassung. (Vgl. die Einzelheiten in meiner Schrift über den irischen Senat, bes. S. 9 fgde. Dort ist auch das eigenartige skandinavische System der Ausschüsse an Stelle erster Kammern gewürdigt.)

Für einen Konflikt zwischen zwei gewählten Kammern böte sich dann auch, wo man für das Referendum noch nicht reif ist, als durchaus natürliche Lösung die „Durchstimmung“, die ja schon für die jetzigen Zweikammerkonflikte teils verfassungsmässig vorgeschrieben ist, teils von den Reformern empfohlen wird.[2] Man kann ihr jetzt noch mit Recht entgegenhalten, dass sie ein roher und den Zufall anrufender Notbehelf ist, da schlechterdings jeder innere Grund und Massstab für die Zahl der Mitglieder der einen und der andern Kammer fehlt. In dem Zukunftsbild der beiden gewählten Kammern ist dagegen solch ein Massstab von selbst gegeben.




  1. Esmein S. 93; Desplaces 357 f. (suffrage à deux degrés); Menger 230.
  2. Konferenzen oder ein Vereinigungsverfahren, bei dem Deputationen der beiden Häuser zusammenkommen, sind häufig zur Lösung von Konflikten oder zur Verhütung unnötiger Schärfe im Konflikte sehr dienlich gewesen. In England sind sie im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr so beliebt wie früher. In Deutschland gibt Sachsen mit ihnen ein gutes Beispiel.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/451&oldid=- (Version vom 25.8.2021)