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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Um gegen die logische Folgerung nicht nur mit Nützlichkeitserwägungen ankämpfen zu müssen, wird die Behauptung aufgestellt, das Wählen sei nicht Volks-, sondern Amtstätigkeit.

In England bedarf es der Konstruktion als Staatsfunktion nicht, um die Gefahren des allgemeinen Wahlrechtes abzuwenden. Hier wird das Wahlrecht wohl als Recht, aber immer noch als Privatrecht das an Grund und Boden haftet, als Realgerechtsame aufgefasst. Dass jedermann Eigentümer, Besitzer, Pächter, Mieter ist, also jeder ein Recht an Grund und Boden hat, erwartet niemand.


III. Zweck des Wahlrechts. Die Teilnahme an der Wahl ist ein Recht des Individuums. Hieraus folgt, dass die Teilnahme Interessen von einzelnen und von Gruppen (Ständen, Bezirken) solcher dienen darf. Und weil das durch die Wahl zu schaffende Organ das Volk, also alle Staatsangehörigen vorzustellen hat, folgt hieraus, dass möglichst allen vollgeschäftsfähig gewordenen die Befugnis einzuräumen wäre, ihre privaten Interessen (einschliesslich der ihrer Umwelt) durch Teilnahme an der Wahl zur Geltung zu bringen. Das Leben im Kulturstaate erfordert diese Befugnis um so mehr, als der Kulturstaat einen immer höheren Teil des Lebensinhalts des Individuums in Anspruch nimmt. Die Eigenschaft des Wählens als subjektives Recht führt somit zum Prinzipe des allgemeinen Wahlrechts. Allein das Wahlrecht ist kein Privat-, sondern ein öffentliches Recht des Individuums. Es wurde ihm verliehen, um das Staatsorgan zustande zu bringen, das zur Mitwirkung bei den bedeutendsten Staatsgeschäften und zur Kontrolle der ganzen Staatsverwaltung berufen ist. Dies ist der wichtigere Zweck, denn das zu schaffende Organ soll der Gesamtheit dienen. Also geht dieser Zweck des Wählens vor. In erster Linie muss daher das Wahlrecht so gestaltet werden, wie es das öffentliche Interesse fordert. Auch das Wahlrecht wird deshalb von dem Satze beherrscht, ohne den ein Staat überhaupt nicht möglich ist: zuerst die Ordnung, dann die Freiheit. Das Wahlrecht kann nur so geformt werden, wie es dem Interesse des Staates entspricht. Salus publica suprema lex esto, gilt auch für die Wahlrechtsordnung.

Die Doppelaufgabe des Wahlrechts tritt in den positiven Wahlgesetzen deutlich hervor. Ausschliesslich oder vorwiegend dem Macht- oder Ordnungsinteresse dienen das beschränkte und das ungleiche Wahlrecht, der Ausschluss der juristischen Personen vom Wahlrecht und die sog. Wahlkautelen, die Wahlpflicht, der Verlust des Wahlrechtes wegen Unfähigkeit (Pflegschaft, Konkurs usw.) und Unwürdigkeit, Ruhen des Wahlrechts für Soldaten, Erlass des Wahlgesetzes als Verfassungsgesetz. Freiheitseinrichtungen im Wahlrecht bilden dagegen ganz allgemeines und gleiches Wahlrecht und Wahlrecht der juristischen Personen, Ausschluss der Wählbarkeit von Beamten, Ausschluss des Wahlzwanges, Ordnung des Wahlrechts durch einfaches Gesetz.


IV. Die Verschiedenheit des Wahlrechts. Jedes Wahlrecht und demgemäss auch jede Wahlreform besteht aus einem Ausgleiche zwischen den Folgerungen des Individual- und des Sozialprinzips. Freiheits- und Ordnungsbedürfnis sind aber nach Ort und Zeit verschieden; ein anderes im Gross- und im Klein-, im sozial homogenen und im gemischten, im Agrar- und im Industrie-, im evangelischen und katholischen Staate usw. Ein anderes Bedürfnis besteht ferner in einer Zeit, wo Kampf um ideelle Güter (geistige, religiöse, nationale: Press-, Gewissensfreiheit, Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Konstitution) und in einer Zeit, wo Kampf um wirtschaftliche Interessen im Vordergrande steht. Daher ist das Wahlrecht nach Raum und Zeit verschieden. Es gibt kein absolut bestes und kein starres Wahlrechtssystem. Das Wahlrecht muss sich an Ort und Zeit anpassen und daher auch organisch fortentwickeln. Aus der Verschiedenheit an Ort und Zeit ergibt sich z. B., dass es realpolitisch etwas anderes ist, ein bestimmtes Wahlsystem einzuführen und ein anderes, es abzuschaffen. Es bereitet mehr Schwierigkeiten ein unzweckmässiges Wahlsystem zu beseitigen, als seine Einführung zu verhindern. Daraus, dass das Wahlrecht der Wirkung nach teils dem Individual-, teils dem Sozial- d. h. Gesamtinteresse dient, darf nicht abgeleitet werden, dass auch bei der Herstellung des Wahlrechts in erster Linie diese Gesichtspunkte massgebend

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 433. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/453&oldid=- (Version vom 27.8.2021)