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sind. Namentlich seit die Parteien an der Gestaltung des Wahlrechts mitarbeiten, wird nicht sowohl gefragt: was fordert das Freiheits-, was das Ordnungsinteresse? als vielmehr, was fordert das Machtinteresse der Beteiligten? Die nicht im Besitze der Macht Befindlichen (Parlament, Minderheitsparteien) vertreten wohl das Freiheitsprinzip, aber nicht um seiner selbst willen, sondern um dadurch (d. i. durch Ausdehnung des Wahlrechts) zu Macht zu gelangen. Das andere Prinzip verteidigen die in der Macht Sitzenden (die Regierung, die Mehrheitsparteien), um sich in der Macht zu erhalten. Befinden sich Linksliberale im Genusse der Macht, dann erklären sie sich gegen, befinden sich Konservative in der Minderheit, so erklären sie sich für Erweiterung des Wahlrechts. Ein Wahlrecht kann aus ganz anderem Grunde eingeführt sein, als dem, der seiner Natur entspricht, aber trotzdem die seiner Natur entsprechende Wirkung haben. Jedermann weiss, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht für den deutschen Reichstag eingeführt wurde, um durch Beteiligung aller Volksklassen an den Wahlen den nationalen Geist zu stärken und so die Einheit Deutschlands gegen innere und äussere Feinde zu sichern. Aber das Wahlrecht hat zu Gunsten des Individualismus, des Parteiegoismus gewirkt.


V. Das theoretisch beste Wahlrecht. Wenn es auch kein absolut bestes Wahlrecht gibt, so lässt sich doch aus der Erfahrung heraus bestimmen, welches Wahlrecht im allgemeinen d. h. von den besonderen Bedürfnissen des Ortes und der Zeit abgesehen für den Kulturstaat das zweckmässigste, das Kulturwahlrecht ist. Das beste ist eine Verbindung von allgemeinem Wahlrecht mit Mehrstimmrecht und Wahlzwang. Das allgemeine Wahlrecht wird vom Individualprinzip gefordert. Alle Individuen, alle Parteien und Bestrebungen sollen die rechtliche Möglichkeit haben, am Wahlkampfe teilzunehmen. Mehrstimmrecht für Bildung und Vermögen in einer Stärke, dass die mehrstimmigen Gruppen über die einstimmigen das Uebergewicht erhalten, also ungleiches Wahlrecht verlangt das Gesamtinteresse. Die Erfahrung zeigt, dass gleiches Wahlrecht die Parteien zwingt, die Massen zu gewinnen und sich zu erhalten. Das bewirkt, dass populäre, aber staatsschädliche Massnahmen ergriffen und unpopuläre, aber staatsnotwendige Massnahmen unterlassen werden. Schädlich z. B. ist Sozialpolitik auf Kosten gesunder Finanzpolitik. Das Parlament muss so gestaltet sein, dass nicht das populäre, sondern das dem Vaterlande nützliche beschlossen wird. Dazu gehört abgestuftes Wahlrecht. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, dass eine Kammer nach gleichem Wahlrecht gewählt wird, wenn dann nur noch eine zweite mit ganz gleichen Rechten vorhanden ist, die ebenfalls aus Wahlen und zwar aus ungleichen hervorgeht. Die Menschen sind für den Staat nicht gleich viel wert, daher ist ungleiches Wahlrecht auch gerecht. Selbst die Sozialdemokratie kennt ungleiches Stimmrecht; auf ihren Delegiertentagen wird nach der Beitragshöhe abgestimmt. Das Gesamtinteresse heischt endlich tunlichst allgemeine Teilnahme der Wählerschaft als Gegengewicht gegen den terroristischen Einfluss mancher Parteien auf die Bevölkerung. Das Wahlergebnis darf nicht von zufälligen, durch Parteidruck herbeigeführten Mehrheiten abhängig sein.

Nur wer das Wahlrecht lediglich vom Individualinteresse aus betrachtet, kann die Behauptung aufstellen: gleicher Wehr-, Steuer- und Schulpflicht entspricht auch gleiches Wahlrecht. Das Gesamtinteresse verlangt gleiche Wehr-, Steuer-, und Schulpflicht, aber verbietet gleiches Wahlrecht. Massenheere z. B. sind dem Staate nützlich, Massenwähler dagegen nicht. Dem Individualinteresse entspricht Wahlfreiheit, dem Gesamtinteresse aber Wahlpflicht.[1]


VI. Frauenstimmrecht. Wer das Wahlrecht nur vom Standpunkte des Individualinteresses aus ansieht, muss den Frauen und zwar allen, nicht nur den erwerbstätigen oder verheirateten, Stimmrecht und zwar gleiches wie den Männern gewähren, gerade so wie dann ein Wahlrecht der juristischen Personen anzuerkennen ist. Bei Beachtung des Gesamtinteresses


  1. Hauptgegner des Stimmzwanges in Deutschland Triepel, Zeitschr. f. Politik 4, 597. Lit.: Spira, Die Wahlpflicht 1909.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/454&oldid=- (Version vom 27.8.2021)