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kann sich anderes ergeben. Allgemeines Frauenstimmrecht bedeutet Schwächung des Ordnungsgedankens, denn die Zahl der Massenwähler steigt dadurch. In Ländern und in Zeiten, in denen beim katholischen Klerus die kurialistische Richtung überwiegt, bedeutet allgemeines Frauenwahlrecht mehr als Verdoppelung der die Kirche über den Staat stellenden Stimmen. Sozialethische Gründe (Hausfrauenpflicht, Familienfriede) verbieten das Stimmrecht verheirateter Frauen. Jedenfalls muss das Frauenstimmrecht beschränkt oder, wenn allgemein, ungleich sein, soll das Sozialprinzip nicht zu sehr leiden. Das Gesamtinteresse ist gar nicht beachtet, wenn man sagt: Die Frau ist fähig genug auf dem Throne zu sitzen; dann muss sie auch fähig sein, das Wahlrecht zu haben. Dort handelt es sich um eine, hier um viele Frauen; das Staatsinteresse (die Sicherheit der Thronfolge) lässt dort Zulassung, hier Fernhaltung der Frauen als angemessen erscheinen. Keinen genügenden Gegengrund gegen das Frauenwahlrecht bildet, dass das Wahlrecht der Frau und der Töchter in vielen Fällen eine Kräftigung des politischen Einflusses von Mann und Vater bedeuten wird. Mehr als die Hälfte der Frauen ist unverheiratet, viele Töchter erwerbstätig und dadurch selbständig. Andrerseits liegt kein Hinderungsgrund für das Frauenwahlrecht in der mangelnden militärischen Dienstpflicht. Nicht geeignet zum Dienste bedeutet nicht auch ungeeignet zum Wählen.

Politisches Frauenstimmrecht gilt in den Unionsstaaten Wyoming (schon seit 1869), Colorado, Utah (1895), Idaho (1896), Süddakota (1909), Washington (1910), Arizona, Kansas, Michigan, Oregon (1911), Californien (1912), ferner in Südaustralien, das der Haupt-Frauenstimmrechts-Staat ist, und in Neuseeland (1895). In Finnland wurde es 1906 eingeführt. 1911 haben es Island, der dänische Reichstag, Viktoria und Portugal beschlossen. In Norwegen besteht es seit 1907 überhaupt, seit 1913 in gleichem Umfange wie für Männer. 1915 werden mit 230 000 stimmberechtigten Männern 250 000 stimmberechtige Frauen zur Wahlurne gehen. Am 17. März 1911 zog die erste Frau in das Storthing ein. In Finnland sind von 132 Abgeordneten zurzeit 16 weiblichen Geschlechts. Kommunalwahlrecht besitzen die Frauen in Schweden seit 1910, in Norwegen seit 1907. Bis 1910 waren sie dabei in Norwegen durch den Steuerzensus schlechter gestellt als die Männer.

In allen Ländern, wo das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, handelt es sich um dünn bevölkerte Gebiete. Die Gefahren des Massenwahlrechts sind da geringer. In Finnland war man bereit, um auch die Familie zum Kampfe gegen die Unterdrücker zu gewinnen ; in Portugal, um die Frauen womöglich dem Einflusse des antirepublikanisch gesinnten Klerus zu entwinden.


VII. Allgemeines und beschränktes Wahlrecht. Von allgemeinem Wahlrecht wird in der Praxis des Rechts und der Politik nicht erst gesprochen, wenn alle erwachsenen Staatsangehörigen zur Wahl zugelassen sind, sondern schon, wenn die Wahlfähigkeit von weiteren Voraussetzungen abhängig ist, aber nur solchen, in deren Besitz der erwachsene Mann ohne besondere Schwierigkeit gelangen kann. Ist das Wahlrecht von ganz geringer direkter Steuer (50 Pfg.), mehrjähriger Staatsangehörigkeit und Ansässigkeit in Staat oder Wahlkreis abhängig, so spricht man trotz dieser Wahlkautelen doch noch von allgemeinem Wahlrecht. Dieses zerfällt daher in ganz (kautelenfreies) und gemässigt allgemeines. Beschränktes Wahlrecht liegt vor, sobald das Wahlrecht an Voraussetzungen gebunden ist, die nicht bei jedem Erwachsenen leicht eintreten: nicht zu geringe direkte Steuer (Zensuswahlrecht), Bildung (Lesen und Schreiben), Haushalt.


VIII. Gleiches und ungleiches Wahlrecht. Die gesetzliche und politische Praxis nennt gleich bereits ein Wahlrecht, bei dem für alle oder die allermeisten Wahlfähigen die Wahlbefugnis von denselben Voraussetzungen abhängig ist. Richtiger Ansicht nach ist ein Wahlrecht schon ungleich, wenn für das Stimmgewicht zwischen den Wahlkreisen mehr Unterschiede als Gleichheiten bestehen. Erst wenn auch die Wahlkreise in der Hauptsache gleich sind, ist auch das Wahlrecht gleich. Ungleiches Wahlrecht muss nicht parteiisch sein. Ungerecht, parteiisch ist es erst, wenn die Ungleichheit aus Sonder-(Partei-), nicht im Staatsinteresse besteht.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/455&oldid=- (Version vom 27.8.2021)