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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

nur: die Klassen besitzen gleiche Wahlkraft (jede ein Drittel Wahlkraft). Die Klassen sind Wahlklassen. Die gleiche Wahlkraft kann daher auch Klassen mit verschiedenem Steuergewichte verliehen werden. In Preussen ist es allerdings nicht der Fall. Es gilt Steuerdrittelung und zwar reine. Nur gleiche Steuerkraft besitzt gleiche Wahlkraft. Die auf den Abstimmungsbezirk (Urwahlbezirk) entfallende Gesamtsteuersumme wird auf die drei Klassen gleichmässig verteilt. Die Regierung wollte 1891 zwölfteln (5/12 erste, 4/12 zweite, 3/12 dritte Klasse), um zu verhindern, dass durch die damals eingeführte Progressivbesteuerung Wähler aus höheren in niedrigere Klassen herabgedrückt werden. Das Abgeordnetenhaus schlug zu dem gleichen Zwecke für die erste Klasse eine sog. Maximierung auf 2000 Mk. Steuer vor. D. h. es sollte eine Steigerung des Übergewichts des Reichtums dadurch gemindert werden, dass über eine bestimmte Summe hinaus die Steuerleistung ausser Anrechnung bleibt. Das Herrenhaus lehnte beide Vorschläge ab. Man einigte sich in der Wahlgesetznovelle vom 29. Juni 1893 dahin, die Steigerung jenes Übergewichtes in der Weise abzuschwächen, dass nicht nur wie bisher die Gesamtsumme der direkten Staats-, sondern auch aller direkten Kommunalsteuern (an Gemeinde, Kreis, Provinz, Bezirk) der Drittelung zugrunde gelegt wurde.

Die gescheiterte Wahlreform von 1910 stellte sich zur Aufgabe, das preussische Wahlrecht aus einem Reichtums- und teilweise auch Proletarier-Wahlrecht in ein Mittelstands-Wahlrecht umzuwandeln. Was die proletarische Seite angeht, so hat das preussische Wahlrecht seit 1891 in den Grossstädten demokratische Begleiterscheinungen gezeitigt. Bis 1891 erfolgte die Drittelung gemeindeweise. Zur Erleichterung der Wähler (Abkürzung des Weges) wurde 1891 die bezirksweise Drittelung, d. h. Bildung dreier Abteilungen schon für jeden Urwahlbezirk eingeführt. Das bewirkte, dass in den Aussenbezirken der Grossstädte Leute mit ganz geringer Steuerleistung auch in höheren Klassen die Mehrheit erlangten und so den Mittelstand im Wahlkreise überwanden. Die Reform von 1910 wollte dem entgegenwirken durch Rückkehr zu grösseren Drittelungsgebieten. Das Übergewicht der Reichen sollte beseitigt werden: 1. durch Maximierung: bei jedem Wähler werden seine Steuern über eine Höchstgrenze (5000 Mk.) hinaus nicht mehr in Ansatz gebracht; 2. durch Umbildung der Wahlklassen aus reinen Steuerklassen in Steuer- und Bildungsklassen (Verbindung mit Kulturträgerwahlrecht.) Leute mit höherer Bildung, grösserer politischer Erfahrung und durch längeren öffentlichen Dienst erprobter Staatsgesinnung (sog. Kulturträger) sollten in eine höhere Wahlklasse eingereiht werden als die, in welche sie nach ihrer Steuersumme einzustellen wären.

Andere Mittel zur Abschwächung des plutokratischen Charakters des Steuerklassen-Wahlrechts sind: 1. Modifikation der Einteilung durch das Wählerzahl-Moment: die erste und zweite Klasse muss nicht bloss eine bestimmte Steuersumme, sondern auch eine bestimmte Wählerzahl umfassen. Machen die, auf welche das erste Drittel der Steuersumme entfällt, nicht zugleich 1/6 (1/9, 1/12) der Wahlbürgerschaft des Einteilungssprengels aus, so werden von den Nächstbesteuerten zur ersten Klasse so viele gezogen, bis diese 1/6 (1/9, 1/12) der Wahlberechtigten umfasst. Die nächsten, die die Hälfte der verbleibenden Steuersumme aufbringen, bilden die zweite Klasse, aber nur, wenn sie zugleich 2/6 (3/9, 4/12) der Wahlberechtigten umfassen; erreichen sie die Zahl nicht, so rücken entsprechend Niedrigstbesteuerte auf. Das System gilt für Gemeindewahlen in Baden und zwar seit der Gemeindeordnung vom 18. Okt. 1910 in Form der Sechstelung (1/6, 2/6, 3/6). Selbstverständlich ist, dass bei Sechstelung die erste Klasse mehr Wähler umfassen muss, als bei Neuntelung oder Zwölftelung. Sechstelung schwächt also die Wahlkraft der Höchstbesteuerten stärker. In Preussen zeigt sich ein Ansatz dieser Modifikation insoferne, als seit 1891 jede nicht zur Staatseinkommensteuer veranlagte Person als Dreimark-Wähler fingiert wird. Dadurch wurde die in der Progressivbesteuerung liegende Wahlbevorzugung der Reichen in etwas gedämpft, denn die Steuerfreien zählten jetzt bei der Berechnung des Steuerdrittels mit. 2. Die Minimierung. Sie bedeutet: für das Aufrücken in die höhere Wählerklasse ist ein Mindesteinkommen vorgeschrieben.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/457&oldid=- (Version vom 27.8.2021)