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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Jahrhunderts vorliegen, gaben nun dem mittelalterlichen Katholizismus der unteren Schichten allmählich jene besondere leidenschaftliche Färbung, welche für den Glauben der breiten Masse des katholischen Volkes in der Gegenwart charakteristisch ist. Indes diese Entfaltung erklärt nur eine Seite des modernen Klerikalismus. Daneben steht eine andere, aus deren Entwicklung her die klerikalen Massen ihre Führer erhielten. Wir haben schon oben gesehen, wie der historische Sinn ein für die subjektive Persönlichkeit der modernen Zeit charakteristisches Merkmal ist, und wie gerade von dieser Seite her den freiheitlichen Bestrebungen dieser Persönlichkeit ein unter Umständen mehr bindendes Motiv entgegentrat. Die erste höchst markante Erscheinung, in der diese Kombination von Bedeutung wurde, knüpfte sich nun an die Romantik. Die Frühromantik begann mit einem Streben nach fast willkürlicher Freiheit, und sie endete für eine nicht geringe Anzahl gerade von hervorragenden Vertretern mit dem Übertritte zum Katholizismus. Die Personen, die auf diese Weise in den Katholizismus hineingerieten und die gebildeten Angehörigen des Katholizismus, die sich auf diese Weise entwickelten, ergaben nun schon für das zweite und dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine kleine Gruppe von Führern, die, wenn sie in Kindern und Kindeskindern an die Spitze der grossen klerikalen Massen traten, eine politische Handlung von ungewöhnlicher Bedeutung vollzogen. Die hier angedeutete Kombination trat nun bekanntlich zuerst in den zwanziger Jahren in Frankreich auf. In Deutschland kann man vielleicht die Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier im Jahre 1844 als das entscheidende Datum betrachten, an dem sich die Nation der Existenz des Klerikalismus bewusst wurde.

Nach alledem traten also aus der ersten Periode der Entwicklung der subjektiven Persönlichkeit mit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer deutlicher markiert drei grosse Parteien hervor: die konservative, die liberale und die klerikale. Und alle diese Parteien trugen den Charakter noch dieser ersten Periode: sie waren nach grossen allgemeinen Idealen orientiert, hatten ursprünglich verhältnismässig wenig Beziehungen zu Wirtschaft und Gesellschaft und können deshalb als ideologisch bezeichnet werden.

Ganz anders ist nun die Entwicklung in der zweiten Periode des modernen Subjektivismus abgelaufen. Was hier geschehen ist und noch geschieht, kann an dieser Stelle mit wenig Strichen angedeutet werden. Alle Welt weiss, in welcher ausserordentlichen Weise sich seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts unser Wirtschaftsleben und dementsprechend auch unsere soziale Schichtung umgewandelt hat. Es handelt sich hier um eine ungeheure Reihe von Vorgängen, an deren Spitze man vielleicht ein Ereignis auch aus dem Jahre 1844 stellen kann. Damals wurde in Berlin die erste Industrieausstellung abgehalten und zu gleicher Zeit der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen gegründet. Im übrigen ist bekannt, dass bereits die Einheitsbewegungen der vierziger Jahre, wenn auch zunächst noch ideologisch, doch schon Unterströmungen verkehrspolitischen und kommerziellen Charakters hatten. Und für die fünfziger und sechziger Jahre wurde es dann von besonderer Bedeutung, wie aus dem Wirtschaftsleben der modernen Unternehmung eine ganze Standesbildung der Unternehmung hervorzuwachsen begann, am frühesten, besonders deutlich ausgesprochen, der Stand der Arbeitnehmer, die heutige vierte Klasse, dann aber auch, etwas später, der Stand der Arbeitgeber. Sehr bald aber trat dazu eine andere Erscheinung, die sich auf dem Gebiete der Sozialgeschichte immer wiederholt. Die neuen Klassen, ganz modern organisiert, färbten, eben weil sie Träger des fortschrittlich Neuen waren, auf die vorhandenen Klassen ab, ja noch mehr, zersprengten und zersplitterten sie in der Fortentwicklung des modernen Wirtschaftslebens oder bildeten sie wenigstens vollkommen um. Am wenigsten hat vielleicht unter dieser so revolutionären Erscheinung das Bauerntum gelitten. Von alters her am Boden haftend, hat es diesem die Kraft entnommen, zu bleiben wie es war. Am meisten aber musste von den neuen Vorgängen, die sich ja zunächst auf dem Gebiete der Geldwirtschaft vollzogen, natürlich das Bürgertum erschüttert werden. Insbesondere hat die sogenannte Bourgeoisie und in ihr wieder das Handwerk zum grossen Teil die Grundlage seiner früheren Existenz verloren. Ganz besonders eigenartig wirkte aber die allgemeine Umwälzung auf den grossen Grundbesitz. Es ist eine bekannte Tatsache der deutschen Wirtschaftsgeschichte, dass dieser sich schon im 18. Jahrhundert teilweise zur Unternehmung ausgestaltet hatte. Brachte den Grossgrundbesitzern nun das 19. Jahrhundert die Agrikulturchemie und den landwirtschaftlichen Nebenerwerb und damit die steigende Möglichkeit kapitalistischen Betriebes,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/51&oldid=- (Version vom 4.7.2021)