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II. Die soziologische Staatsidee.

Die soziologische Staatsidee,[1] welche auf deutschem Boden von Ludwig Gumplovicz begründet wurde,[2] erklärt den Staat als eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersteren über die letztere zu regeln und gegen innere Aufstände und äussere Angriffe zu sichern. Als Hauptstütze dieser Auffassung dient der Hinweis auf die angeblich allbekannte Tatsache, dass die Entstehung von Staaten in der geschilderten Weise immer vor sich gegangen sei. Zwischen dem siegreichen Stamme und dem unterworfenen sei ursprünglich eine ethnische Verschiedenheit vorhanden (Rassenkampf), welche sich später zu einer sozialen Klassenbildung gestalte. Die Ungleichheit, sowie die Herrschaft einer Bevölkerungsklasse über die andere gehört demnach zum Wesen des Staates, welcher nichts anderes bedeute als eine Organisation dieser Herrschaft. Während sich Gumplowicz in fatalistischer Weise damit begnügt, diesen angeblich ewigen Charakter des Staates festzustellen, haben einzelne seiner Schüler die Hoffnung ausgesprochen, dass der Staat der Zukunft seinen gewaltsamen, ausbeuterischen Charakter verlieren wird.[3]

Die skizzierte Lehre vom Staate bezeichnet sich als die einzig wissenschaftliche Theorie, der gegenüber die bisherigen Auffassungen, obwohl sie eine mehr als zweitausendjährige Entwicklung aufweisen können, als blosse Klassentheorien verächtlich beiseite geschoben werden.[4] Dieses starke Selbstbewusstsein, mit welchem die soziologische Staatslehre auftritt, ist jedoch kaum geeignet, über ihre höchst mangelhafte Begründung hinwegzutäuschen. Zunächst ist in methodischer Beziehung zu bemerken, dass aus der Art der Entstehung des Staates ein sicherer Schluss auf das innere Wesen desselben nicht gezogen werden kann. Selbst wenn der Nachweis gelungen wäre, dass die Unterjochung eines Volksstammes durch einen andern den Ursprung der staatlichen Verbindung darstelle, so folgt daraus keineswegs mit Notwendigkeit, dass das Wesen des Staates zu allen Zeiten in der Klassenherrschaft gelegen sei. Es ist die Möglichkeit nicht abzuweisen, dass der Staat seinen ursprünglichen Charakter (Organisation einer siegreichen Menschengruppe) geändert haben kann.

Der empirische Beweis für die Lehre, dass die kriegerische Unterwerfung den einzigen oder auch nur den häufigsten Entstehungsgrund des Staates darstelle, ist keineswegs erbracht worden. Ohne auf dieses Thema näher einzugehen, da ihm ja ein besonderer Abschnitt dieses Werkes gewidmet ist, kann jedoch hier soviel bemerkt werden, dass die Vertreter der soziologischen Staatsidee konsequent die Veränderungen innerhalb der bestehenden Staatenwelt mit der ursprünglichen Entstehung des Staates verwechseln. Wenn z. B. darauf hingewiesen wird,[5] dass sich im Zweistromlande ein Staat nach dem andern durch Eroberung gebildet habe (Babylonier, Assyrer, Meder, Perser, Makedonier usw.), so ist damit gar nichts bewiesen. In allen diesen Fällen haben nicht staatslose Volksstämme miteinander gekämpft und durch Unterwerfung einen bisher nicht existierenden staatlichen Verband erzeugt, sondern es haben bereits bestehende Staaten von hoher Kultur miteinander gerungen. Der Siegeszug Alexanders des Grossen vernichtete das Reich der Perser und erweiterte in grossartigem Umfange das Gebiet des makedonischen Königreichs; was damit für die Entstehung des Staates bewiesen werden soll, bleibt unerfindlich. Übrigens zeigt die Geschichte auch zahlreiche Staaten, welche durch Kolonisation auf bisher unbesiedeltem Boden, ohne jede kriegerische Aktion entstanden sind.[6]


  1. Streng genommen gibt es nicht eine einheitliche soziologische Staatsidee. Die zahlreichen Richtungen, welche in der soziologischen Wissenschaft vertreten sind (vgl. meine Schrift „Naturrecht und Soziologie“ 1912), bedingen auch verschiedene Staatsauffassungen. Allein es ist üblich geworden, jenen Ausdruck in dem eingeschränkten Sinne der Rassen- oder Klassentheorie zu verwenden. In den meisten Darstellungen der allgemeinen Staatslehre wird übrigens diese Lehre ignoriert.
  2. Namentlich in dem Werke „Die soziologische Staatsidee“, 2, Aufl. 1902; als Schüler sind zu nennen G. Ratzenhofer und F. Oppenheimer.
  3. So bes. F. Oppenheimer in dem Werke „Der Staat“ 1909.
  4. Oppenheimer a. a. O. S. 6.
  5. Oppenheimer S. 9, 10.
  6. Die gewaltige Ausnahme, welche die United States, in bezug auf die Kampf-Theorie bedeuten, wird von Oppenheimer S. 10 damit erklärt, dass sich hier die auszubeutende Menschenrasse selbst importiert hat!
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/57&oldid=- (Version vom 4.7.2021)