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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Die Weltgeschichte kennt überhaupt nur staatlich organisierte Völker; die soziologische Theorie kann daher nur als eine Hypothese für die vorgeschichtliche Zeit angesehen werden. Übrigens hat einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart den überzeugenden Nachweis erbracht,[1] dass die Annahme eines staatlosen Urzustandes der Menschheit weder empirisch noch deduktiv begründet werden kann, dass der Staat ebenso alt ist wie das Menschengeschlecht, ja in einem gewissen Sinne älter als dasselbe. Schliesst man sich dieser Auffassung an, dann verliert die soziologische Staatsidee völlig ihre geschichtliche Grundlage. Dazu kommt, dass die Bildung von Kasten und Klassen nachweisbar häufig andere Ursachen gehabt hat als die kriegerische Unterwerfung eines Volksstammes. Die Herrschaft des Priesterstandes z. B. kann schwerlich auf derartige Ereignisse zurückgeführt werden; der Untergang des freien Bauernstandes in Deutschland hat mit der Unterjochung durch eine siegreiche Volksgruppe nicht das mindeste zu tun.

Die soziologische Richtung hat das grosse Verdienst, die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Gegensätze innerhalb des Staatsganzen hingewiesen, die Klassenbildung und die sozialen Abhängigkeitsverhältnisse in scharfe Beleuchtung gerückt zu haben. Ihr Irrtum besteht jedoch darin, dass sie die trotz aller Gegensätze bestehende Solidarität der Interessen des staatlich geeinten Volkes ignoriert und namentlich jene Faktoren nicht würdigt, welche gegenüber den Klassengegensätzen die Gesamtaufgaben des Staates wahrnehmen und verteidigen. Heer und Beamtentum und in den monarchischen Staaten die Krone stellen solche Faktoren dar, welche geeignet sind, dem Staate den Charakter einer Klassenherrschaft zu benehmen. Ist doch selbst der Hauptvertreter der soziologischen Staatsidee genötigt anzuerkennen,[2] dass der Staat als oberster Friedensbewahrer und Verteidiger aller mit seinem Bestande nicht unvereinbarer Interessen der sozialen Kreise und Gruppen eine natürliche Funktion ausübe. Trifft dies zu, dann ist der Staat doch etwas anderes als organisierte Klassenherrschaft, dann ist er nicht ein Fabelwesen, wie ihn Anton Menger bezeichnet hat;[3] er fällt dann nicht zusammen mit der im politischen oder wirtschaftlichen Kampfe siegreichen Menschengruppe, so gross auch der Einfluss sein mag, den dieselbe innerhalb einer zeitlich beschränkten Epoche auf die Aktionen des Staates auszuüben vermag. Die Gesamtinteressen des staatlich geeinigten Volkes verstehen sich dessenungeachtet durchzusetzen.

III. Organische Theorie.

Die Auffassung des Staates als Organismus bedeutet zunächst, dass die politischen Assoziationen der Menschheit auf naturgegebener Grundlage beruhen. Der Staat erscheint demzufolge nicht als eine künstliche Schöpfung reflektierender Vernunft, sondern als ein notwendiges Produkt menschlicher Anlagen, er bildet keinen Mechanismus, sondern einen Organismus. Dies gilt nicht nur vom Staat im allgemeinen, sondern auch von der konkreten Gestaltung, welche die politische Organisation eines Volkes angenommen hat. In dieser Beziehung wirken drei Faktoren zusammen für die Ausgestaltung der individuellen Staaten: die geographischen Bedingungen des Territoriums, die ethnische Veranlagung (Rasse und Nationalität) und schliesslich die geschichtliche Entwickelung des betreffenden Volkes. Innerhalb der dadurch gegebenen Schranken verbleibt der bewussten Einwirkung des menschlichen Willens ein beschränkter Raum für seine Betätigung.

In dieser allgemeinen Bedeutung wird die Richtigkeit der organischen Staatsauffassung in der Gegenwart kaum ernstlich bestritten. Neben der hohen Wertschätzung, welche dem geschichtlichen Faktor schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beigelegt wurde, sind in der zweiten Hälfte desselben eingehende Untersuchungen über die geographischen Grundlagen der staatlichen Entwicklung[4] und über die politische Anthropologie gefolgt, welche, wie alle neuen


  1. Ed. Meyer a. a. O.
  2. Gumplowicz S. 102: „Dabei fällt dem Staate die Rolle zu, die ungleichen sozialen Elemente durch eine ihnen aufgezwungene Rechtsordnung stets in einem labilen Gleichgewicht zu erhalten.“ Wie kann aber der „Staat“ dann identisch sein mit der herrschenden Gruppe?
  3. „Neue Staatslehre“ S. 201.
  4. Hierher gehören namentlich die bedeutenden Werke von Fr. Ratzel.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/58&oldid=- (Version vom 4.7.2021)