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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Es gibt aber noch eine dritte Gruppe von Schriftstellern, welche die Stellung einer Frage nach dem Zwecke des Staates aus rein theoretischen Gründen ablehnen zu müssen glauben. Die Organiker, welchen der Staat als wirkliches Lebewesen erscheint, erklären, dass man nach einem Zwecke des Staates ebensowenig fragen könne, wie nach dem Zwecke eines Tieres oder einer Pflanze; von diesem Standpunkte aus könne man höchstens behaupten, dass der Staat Selbstzweck sei.[1] Zuweilen wird auch darauf hingewiesen, dass die Annahme eines Zweckes die Existenz von Vorstellungen und Gefühlen voraussetze; solche sind aber in der bisherigen Erfahrung nur im Bereiche der Einzelseelen festgestellt worden. Der Staat könne sich daher keine Zwecke setzen, weil ihm die entsprechenden seelischen Voraussetzungen fehlen, die selbst dann, wenn man die Existenz eines Gesamtwillens anzunehmen geneigt ist.[2] Ohne dass hier auf die Widerlegung der vorstehenden Bedenken näher eingegangen werden kann, muss darauf verwiesen werden, dass das Problem des Staatszweckes doch einen Sinn und eine Berechtigung besitzen muss, weil es sonst unbegreiflich wäre, wie sich eine Reihe der hervorragendsten Philosophen und Politiker im Verlaufe vieler Jahrhunderte mit diesem Gegenstande eingehend beschäftigt haben. Es gilt nun, den Sinn des ganzen Problems in Kürze festzustellen.

Von einem Staatszwecke im objektiven Sinne kann insofern die Rede sein, als die Institution des Staates bestimmte geschichtliche und kulturelle Wirkungen mit sich bringt. Diese Folgewirkungen des Staates knüpfen sich entweder gleichartig an alle geschichtlich bekannten Volksgemeinschaften, oder sie tragen einen spezifischen Charakter, d. h. sie bilden eine spezifische Wirkung konkreter Staatseinrichtungen. In diesem Sinne kann man von allgemeinen und besonderen Staatszwecken in objektivem Sinne sprechen. Der Gebrauch dieses Ausdruckes ist ebenso berechtigt wie in der Naturforschung, welche z. B. von den Zwecken einzelner Organe der Tiere und Pflanzen spricht; es wird gesagt, dass ein Organ der Abwehr äusserer Gefahren, ein anderes der Ernährung, ein anderes der Fortpflanzung dient. Bei dieser Betrachtung des Staates handelt es sich keineswegs um eine spekulative Untersuchung, um etwas, was dem Bereiche der Metaphysik angehört; der Staatszweck im objektiven Sinne bewegt sich vielmehr durchaus auf dem Boden der Empirie.[3]

Man kann aber auch die Frage so formulieren, dass der Staatszweck im subjektiven Sinn festgestellt werden soll, d. h. die Summe jener Zweckvorstellungen, welche die im Namen des Staates handelnden Personen beherrschen. Auch diese Vorstellungen gehören der Wirklichkeit an, sind aber nur für denjenigen unmittelbar gegeben, welcher Staatszwecke realisiert. Für andere Menschen kann nur auf indirektem Wege das Dasein dieser Zweckvorstellungen festgestellt werden. Besonders schwierig erscheint die Konstatierung solcher Vorstellungen für eine weit zurückliegende Vergangenheit; ausgeschlossen ist es jedoch keineswegs, dass mit Hilfe historischer Dokumente eine Rekonstruktion der subjektiven Zweckvorstellungen herbeigeführt wird. Das Ergebnis solcher Forschungen muss keineswegs mit jenen Tatsachen übereinstimmen, welche vorhin als objektiver Staatszweck bezeichnet worden sind. Ereignet es sich doch nicht selten, dass die tatsächlichen Wirkungen von Willensakten anders gestaltet sind, als sie nach der subjektiven Zweckvorstellung eintreten sollten. So wäre es insbesondere möglich, dass die zunächst im eigenen Interesse von einem Monarchen oder einer herrschenden Gruppe inszenierten Massregeln in Wirklichkeit Folgen herbeiführen, welche den Interessen der Untertanen dienen. In der Regel wird allerdings der Staatszweck im objektiven und im subjektiven Sinne vielfach zusammentreffen.

Eine dritte Bedeutung, welche der Frage nach dem Zwecke des Staates beigelegt werden kann, ist darin gelegen, welche Aufgaben der Staat verfolgen soll, also Staatszweck im ethisch-politischen Sinne. Dabei kann man wieder unterscheiden zwischen dem sog. absoluten Staatszwecke, welcher für alle Staaten als verbindlich behauptet wird, und dem relativen Staatszwecke, welcher nur für einen bestimmten Staat oder doch für die Staaten einer bestimmten Kulturperiode ermittelt werden soll. Wer die unendliche Fülle der Vorschläge betrachtet, welche im Laufe der


  1. Preuss in Schmollers Jahrb. 1902 II S. 118, 119.
  2. So neuestens Kelsen a. a. O, S. 495, 603.
  3. Ich stehe hier im vollen Gegensatz zu den Ausführungen Jellineks S. 223 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/64&oldid=- (Version vom 4.7.2021)