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Jahrhunderte gemacht worden sind, um dieses Problem zu lösen, muss zur Überzeugung gelangen, dass es unmöglich ist, in einer abstrakten Formel das Problem des Staatszweckes im ethisch-politischen Sinne zu lösen. Das zeigt sich auch bei den Erörterungen, welche die Staatslehre der Gegenwart dieser Frage gewidmet hat.

Wenn z. B. Jellinek die Mitarbeit an der fortschreitenden Entwicklung der dem Staate eingegliederten Personen und dann die Mitarbeit an der Entwicklung der menschlichen Gattung als Endziel des Staates bezeichnet,[1] so zeigt eine nähere Betrachtung, dass hier mit unbestimmten mehrdeutigen Ausdrücken (Fortschritt, Entwicklung) operiert wird. Wenn ferner Richard Schmidt aus dem Wesen der staatlichen Organisation folgern zu können glaubt, dass sich die Tätigkeit der Staatsorgane nach den Bestrebungen der Gesamtheit der einzelnen Staatsglieder richten müsse,[2] so bleibt es unklar, was zu geschehen hat, wenn diese Bestrebungen differieren. Die Beschaffung aller Mittel zur Entfaltung des menschlichen Lebens in höchster Vollkommenheit, wie G. Seidler[3] den Staatszweck formuliert, hat das Bedenken gegen sich, dass der Begriff der Vollkommenheit sehr verschieden gedeutet werden kann. Der Satz, dass die Herrschergewalt die Interessen der Beherrschten zu schützen und zu fördern hat (E. Loening) bedarf, wie sein Urheber selbst anerkennt, der Ausführung und Erläuterung.[4] Ebenso bieten die Formeln: Schutz der Gesamtinteressen, der Durchschnittsinteressen aller Bürger, Verwirklichung des Gemeinwillens, das Wohl des Volkes, die Erzielung der grössten Freiheit, die Realisierung der Solidarität usw. keinerlei Lösung des aufgeworfenen Problems.[5]

Es liegt in der Natur eines ethisch-politischen Problems, dass die Versuche zur Lösung desselben immer einen subjektiven Charakter an sich tragen oder doch nur zu mehrdeutigen, inhaltsleeren Formeln führen. Nur in bezug auf einzelne Aufgaben des Staates kann auf Grund der geschichtlichen Erfahrung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Behauptung aufgestellt werden, dass die betreffenden Ziele auch in Zukunft vom Staate werden verfolgt werden. Dies gilt in erster Linie vom Machtzwecke des Staates; doch könnte auch hier, wenn sich die allgemeine Friedensidee einmal realisieren sollte, eine Einschränkung der auf den Machtzweck gerichteten Massnahmen des Staates eintreten. Aber auch dann wird die Ansammlung von Machtmitteln zum Schutze der Ordnung im Innern des Staates immer noch unentbehrlich bleiben. Die Erzeugung und Fortbildung des Rechtes sowie der Schutz der Rechtsordnung wird nach aller menschlichen Voraussicht immer als eine wesentliche Aufgabe des Staates anzusehen sein. Was aber den sog. Kulturzweck anbelangt, so kann, trotz der in der Gegenwart herrschenden Tendenz zu einer ständigen Erweiterung dieses Zweiges der Staatstätigkeit nicht mit voller Sicherheit behauptet werden, dass wir es dabei mit einem sozialen Gesetze zu tun haben; vielmehr ist die Möglichkeit in der Zukunft gegeben, dass wieder eine Einschränkung der Staatsfunktionen oder doch eine Übertragung derselben auf öffentliche Korporationen, insbesondere auf Interessentenvertretungen erfolgen könne.




  1. A. a. O. S. 255. Eine treffende Kritik dieser Formel bei Preuss a. a. O.
  2. Allg. Staatslehre I S. 146, 7.
  3. Das juristische Kriterium des Staates S. 41.
  4. Loening S. 705. Aus seiner Ausführung ergibt sich die Elastizität der vorgeschlagenen Formel.
  5. Zutreffende Kritik einiger dieser Formeln bei Loening a. a. O.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/65&oldid=- (Version vom 4.7.2021)