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der Völker und Länder auch Verschiedenheit in die Aufgaben bringt. Endlich bleiben sie sich auch im Wechsel der Zeiten nicht gleich, sondern ändern sich mit dem Fortschritte von Zivilisation und Kultur.

Ein Blick auf die Literatur des Themas zeigt aber ferner, dass neben der grossen Mannigfaltigkeit in der Beantwortung auch eine geradezu grenzenlose Verwirrung herrscht und diese ist zurückzuführen auf unklare Terminologie in der ganzen Lehre. Man war sich nicht bewusst, dass unter dem Zweck des Staates ganz verschiedene Dinge begriffen werden können. Es ist das unbestrittene Verdienst Jellineks, aus der seit Jahrhunderten herrschenden Unklarheit heraus den Weg zu klarer Erörterung des Problems gezeigt zu haben.[1] Das Durcheinanderwerfen dreier auf ganz verschiedene Dinge gerichteter Fragen war schuld an der Verwirrung in den Antworten. Erstens wurde gefragt nach dem „Zweck der Institution des Staates in der Ökonomie des historischen Geschehens im Hinblick auf die letzte Bestimmung der Menschheit“; zweitens kann die Frage darauf gerichtet sein, welchen Zweck ein konkreter Staat in der Geschichte gehabt habe, eine Frage, die zu gewisser Zeit in der Literatur einen breiten Raum einnahm. Diese beiden Fragen nennt Jellinek die nach dem „objektiven Zweck“ des Staates, erstere die nach dem „universalen“, letztere die nach dem „partikularen“ Staatszweck. Er weist sie beide in das Gebiet metaphysischer Spekulation, die mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln empirischer Forschung nicht zu beantworten sind. Deshalb haben die in dieser Richtung gehenden Untersuchungen, so beliebt und umfangreich sie auch zeitweise waren, niemals ernste wissenschaftliche Resultate gezeitigt. Sie können heute nur mehr historisches Interesse beanspruchen. Endlich ist noch drittens die Frage möglich, „welchen Zweck die Institution des Staates in einem gegebenen Zeitpunkt für die Eingegliederten und damit für die Gesamtheit besitze“; diese Theorien gehören der neueren, historisch denkenden Zeit an und sie allein geben uns eine der modernen Auffassung des Staates entsprechende Antwort. In ihren Grundlinien sind sie von Jellinek in einer das Problem abschliessenden Weise entwickelt worden.

Aus der Fragestellung ergibt sich schon, dass es sich hier um ein historisch-politisches Problem handelt, dass die Materie insbesondere keine juristische Behandlung zulässt.[2] Für den juristischen Staatsbegriff ist es ganz gleichgültig, welche Aufgaben dem Staate zugesprochen werden. Daher ist es auch eine Verkennung des ganzen Problems, von „natürlichen“ oder „notwendigen“ Aufgaben des Staates zu sprechen, von Aufgaben also, die ihm von Natur aus ein für allemal als seinem Wesen entsprechend zukommen müssten. Solche Theorien kann man nur für einen Idealtypus des Staates aufstellen, was ja auch oft genug geschehen ist. Diese, nach der Jellinek’schen Terminologie, „absoluten“ Theorien setzen dem Staat einen Zweck, der für alle Zeiten und jede Form des Staates derselbe bleibt. Aber sie sind ebensowenig zu realisieren wie das Staatsideal. Ihnen gegenüber stehen die Theorien von den relativ-konkreten Staatszwecken, die auf die realen staatlichen Verhältnisse zurückgehen und die stets wechselnden tatsächlichen Umstände in Betracht ziehen. –

Ein Überblick über die Literatur der Frage zeigt, dass die Lehre vom Zweck des Staates zu verschiedenen Zeiten ein beliebtes Gebiet philosophischer, politischer und staatsrechtlicher Untersuchungen war. Man pflegte das Thema aber nicht gesondert, in monographischer Darstellung zu erörtern, sondern untersuchte es im Rahmen der staatsrechtlichen, naturrechtlichen, philosophischen und anderer Systeme; in den Lehrbüchern der Politik und Staatskunst nimmt die Erörterung bisweilen einen breiten Raum ein. Als Beweis für die verschiedene Bewertung und Betrachtungsweise des Problems dient, dass sich einerseits die Behauptung findet, ohne Erkenntnis der Zwecke könne das Wesen des Staates garnicht begriffen werden, während andrerseits von einzelnen Schriftstellern der Staatszweck überhaupt geleugnet wird. Zwischen diesen beiden Extremen finden sich alle Abstufungen mehr oder minder eingehender Behandlung der Frage je nach der Bedeutung, die ihr beigelegt wird.


  1. Allgemeine Staatslehre (2. Aufl. 1905) S. 223 ff.
  2. Vergl. die treffenden Bemerkungen bei Anschütz, Deutsches Staatsrecht, in v, Holtzendorffs Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (6. Aufl.) II. S. 473.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/67&oldid=- (Version vom 7.7.2021)