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Die teleologische Betrachtungsweise geht bei Aristoteles noch weiter als auf die staatliche Gemeinschaft als solche; er bringt auch die einzelnen Staatsformen unter diesen Gesichtspunkt, die er nach dem Zweck, den die Regierenden mit der Herrschaft verbinden, unterscheidet. Jene Monarchie, in der die Herrschaft zum allgemeinen Besten geführt wird, gehört zu den guten Staatsformen und heisst Königtum; jene hingegen, die der Monarch nur zu seinem eigenen Vorteil führt, ist eine schlechte Staatsform, eine Ausartung des Königtums, die Tyrannis. Ebenso ist die Herrschaft einer kleinen Zahl von Bürgern, wenn ihr Zweck das Beste des Staates und seiner Angehörigen ist, eine gute Staatsform, die Aristokratie, während ihre Ausartung, die Oligarchie, nur den Vorteil der Reichen im Auge hat. Endlich nennt Aristoteles die Regierung durch das gesamte Volk, solange sie das Gemeinwohl bezweckt, Politie, ihre Ausartung, die nur das Beste der Armen zum Ziel hat, Demokratie.[1] Das gemeinsame Unterscheidungsmerkmal ist also der Zweck, den die Herrschenden mit der Regierung zu erreichen streben. Nur die salus publica kann Aufgabe eines gesunden Staatswesens sein, wie immer es regiert werde.

Plato und Aristoteles stimmen also darin überein, dass sie ihren Staaten ideale Zwecke setzen, im einzelnen aber weichen sie, zum Teil in wesentlichen Punkten, von einander ab. Welch ausserordentlich weite und dabei unbestimmte Aufgabe sie aber dem Staate mit der Verwirklichung des Sittengesetzes stellen, darüber haben sie sich wohl kaum Rechenschaft gegeben.

Über Aristoteles kam die Staatslehre des klassischen Altertums nicht hinaus. Was andere griechische Philosophen und deren Schulen hier geleistet haben, enthält keine Weiterbildung der von den beiden hervorragenden Geistern begründeten Wissenschaft; insbesondere Aristoteles hat hier, ähnlich wie in den Naturwissenschaften durch seine für unerschütterlich geltende Autorität Jahrhunderte hindurch jeden Fortschritt gehemmt. Gerade in der Staatslehre zeigt sich diese verderbliche Wirkung sehr deutlich, denn seine Definitionen, Begriffsbestimmungen, Einteilungen usw. wurden zum Teil bis tief ins Mittelalter hinein kritiklos als nicht anzuzweifelnde Wahrheiten hingenommen.

Die Römer hinterliessen uns nur dürftige theoretische Betrachtungen über den Staat. Die einzige Staatsdefinition, die uns von ihnen erhalten ist, die Ciceros[2] enthält kein teleologisches Merkmal. Zwar finden sich bei Cicero wie auch bei anderen Schriftstellern einzelne Andeutungen über den Staatszweck, aber ohne nähere Begründung und Ausführung; salus populi suprema lex[3] galt als politisches Prinzip, mit dessen theoretischer Begründung man sich ebensowenig abgab wie mit der Bestimmung dessen, worin die salus populi bestehe; vielleicht kann man darin auch eine Bestätigung für den gesunden, politischen Sinn der Römer sehen, die wussten, dass eine Inhaltsbestimmung des Begriffes sich ins Grenzenlose verlieren müsse und keine praktische Bedeutung haben könne. Jedenfalls lässt sich aus dieser und anderen trivialen Wahrheiten weder bei Cicero noch sonst bei den Römern eine wissenschaftlich fundierte Ansicht über den Staatszweck herauslesen. Überdies standen sie zumeist allzusehr im Banne des Aristoteles, als dass sie selbständig originelle Ideen von wissenschaftlichem Wert hätten aufstellen können.

2. Augustinus. Thomas von Aquino.

Neue Ideen kamen in die staatswissenschaftliche Literatur durch die christlichen Schriftsteller. Dem Zweckproblem hat die christliche Theologie von vornherein grossen Wert beigelegt, was ja schon im Wesen einer Lehre liegt, die dem Jenseits so hohe Bedeutung beimisst.

Augustinus, dessen Lehre von der Unterordnung des Staates unter die Kirche für das ganze Mittelalter vorbildlich wurde, scheidet streng den irdischen vom himmlischen Staat und schreibt beiden ursprünglich getrennte Zwecke zu. Die civitas terrena, aus verbrecherischen Motiven entstanden, kennt als den ihr immanenten Zweck nur die felicitas terrena, die irdische Glückseligkeit, der durch Friedensbewahrung erreicht wird. Die irdischen Staaten aber, die nur dieses Ziel verfolgen, müssen von Gott abfallen und zur civitas Diaboli werden, die niemals Frieden und


  1. Politik, III. 7.
  2. De rep I. 25.
  3. Cicero, De legibus III. cap. 3. § 8: „militaie summum jus habento, nemini parento; ollis populi suprema loi esto.“ Ähnlich; Ad Attikumm VIII. 11. § 1.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/70&oldid=- (Version vom 8.7.2021)