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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Neben Wolff findet sich noch eine grosse Zahl Vertreter dieser Lehre in der zweiten Hälfte des 18. und auch noch in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts; einer der hervorragendsten ist Justi[1], der in mancher Beziehung weniger doktrinär ist als Wolff und die Grenzen staatlicher Macht richtiger beurteilt. Achenwall,[2] A. L. Schlözer,[3] Sonnenfels,[4] u. a. sind in verschiedenem Masse Anhänger der Wohlfahrtstheorie.[5]

In dieser Theorie fand der Polizeistaat des 18. Jahrhunderts eine mächtige Stütze. Wolff war der „offizielle Staatsphilosoph“ Friedrichs d. Gr., unter dessen Regierung die unumschränkte Macht des Staates in voller Blüte stand. Dem Untertanen kommen keine Rechte zu gegenüber dem Monarchen, infolgedessen gibt es auch keinen Missbrauch fürstlicher Gewalt; was der Fürst befiehlt, ist Gesetz. Aus physischen Gründen, weil er nicht alles selbst besorgen kann, bedient er sich der Beamten als Gehilfen, die, innerhalb ihrer Kompetenz, Fürsten im kleinen sind.[6] Im einzelnen finden die eudaimonistischen Lehren in zahlreichen Polizeistrafgesetzbüchern der damaligen Zeit ihre praktische Anwendung.

Aber nicht nur für die Monarchie, auch für die absolute Demokratie ist die eudaimonistische Lehre die gegebene Zwecktheorie. Die französischen Kommunisten, Baboeuf und seine Schule beriefen sich auf das allgemeine Wohl als Staatsaufgabe nicht minder als die modernen Utopisten es mit ihrer staatslosen Gesellschaft tun. In der Demokratie tritt an die Stelle des unbeschränkten Fürsten die Majorität, die unter Berufung auf den Staatszweck in genau der gleichen Weise wie ein absoluter Monarch alle individuelle Freiheit vernichten kann. Man denke an die Schreckensherrschaft des Comité du salut public unter Robespierre und die wahnsinnigen Polizeigesetze des Konvents. Alles geschah unter Berufung auf das allgemeine Wohl, das als Prinzip auch in die vom Konvent beschlossene zweite französische Verfassung aufgenommen wurde: „Le but de la société est le bonheur commun.“[7]

Die Überspannung der Wohlfahrtstheorie hat auch auf wirtschaftliche Lehren ihren Einfluss geübt. Die Vertreter des sogenannten Manchestertums verlangten, der Staat solle sich sämtlicher Eingriffe in die wirtschaftliche Tätigkeit des Individuums enthalten und sich lediglich auf die Gesetzgebungstätigkeit beschränken. Von dieser Lehre wird als erste Aufgabe des Staates die Durchführung vollständiger wirtschaftlicher Freiheit der Bürger verlangt. Unter der Führung von A. Smith, der zweifellos, ebenso wie die französischen Vertreter dieser Lehre von Locke stark beeinflusst ist,[8] überschritt jedoch diese Bewegung in England alle Grenzen. Der Staat sollte nicht nur keine sozialpolitischen Gesetze wie die über Kinderarbeit in den Fabriken u. dergl. mehr erlassen, sondern selbst die Errichtung staatlicher Schulen und der Schulzwang werden als unberechtigter Eingriff in die Privatrechtssphäre des Individuums angesehen. Ein Beweis dafür, welch grossen Einfluss diese Theorie erlangte, ist, dass die Engländer noch 1847 die Deutschen höhnten, weil sie sich die allgemeine Schulpflicht gefallen lassen.[9]

2. Die ethische Theorie.

Sittliche Eudaimonie ist der Staatszweck bei den alten Hellenen. Da Staats- und Kultverband bei ihnen zusammenfielen, lässt sich die Entstehung dieser Lehre in der griechischen Polis nicht schwer erklären. Sie ist aber im 19. Jahrhundert in einer merkwürdigen Art erneuert worden und zwar zweimal in verschiedener Form, einmal von Hegel, dann von Stahl.

Für Hegel ist der Staat die höchste Form der objektiven Sittlichkeit. „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee.“[10] „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens


  1. Grundsätze der Policeywissenschaft. (3. Aufl. 1782).
  2. Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen. (1761).
  3. Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre. (1793).
  4. Handbuch der inneren Staatsverwaltung. (1798).
  5. Weitere Vertreter der Wohlfahrtstheorie bei Murhard, a. a. O. S. 168 ff.
  6. Vergl. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht. I. S. 38 ff.
  7. Verfassung vom 24. Juni 1793, Art. 1.
  8. Vergl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 240 Anm. 1.
  9. Treitschke, Politik, I. S. 80.
  10. Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 257.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/75&oldid=- (Version vom 9.7.2021)