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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

verlangen, heisst ihn verpflichten, die Rechte jedes Einzelnen zu schützen und zu achten, die Wohlfahrt von ihm verlangen, heisst ihn auffordern, die Rechte der Einzelnen zu verletzen . . . . .“ Ahrens[1] nennt das Recht die „Fundamentalidee, welche dem Ursprung und Entfaltungsprozesse des Staats vorsteht.“[2] Ähnlich Welcker.[3]

Allen Vertretern der Rechtsidee ist gemeinsam, dass sie die fürsorgende Tätigkeit des Staates auf ein Minimum reduzieren wollen: der Rechtszweck allein soll die staatliche Tätigkeit bestimmen. Die Vertreter des Liberalismus im 19. .Jahrhundert haben diese Theorie zwar etwas abgeschwächt, lassen aber immerhin nur das Notwendigste an fürsorgender Tätigkeit des Staates zu.

In neuerer Zeit wird mit dem Worte „Rechtsstaat“ noch ein anderer Sinn verbunden; man meint damit nicht so sehr den Zweck des Staates als vielmehr dessen inneren Ausbau, namentlich die Bindung der staatlichen Verwaltungstätigkeit an Gesetze, die für alles Handeln des Staates zugleich Schranke sein sollen; nicht mehr die Zweckmässigkeit allein, sondern auch das Recht soll für die Verwaltung massgebend sein. Auch diese Formulierung des Begriffes ist nicht neu; die „Herrschaft des Gesetzes“ ist vielmehr eine Forderung, die seit Hobbes[4] und Rousseau[5] wiederholt in der Literatur gestellt worden ist; in neuerer Zeit haben sich namentlich Juristen der Frage zugewandt.[6]

4. Relative Zwecktheorien.

Sehr mannigfaltig sind die relativen Zwecktheorien, die von Juristen und Philosophen, in neuerer Zeit auch von Nationalökonomen aufgestellt wurden; sie tragen der Zeit und dem einzelnen staatlichen Individuum Rechnung und weichen oft nur in nebensächlichen Punkten von einander ab. Hier seien einige derselben aus dem 19. Jahrhundert beispielsweise erwähnt.

Zöpfl geht bei Bestimmung des Staatszweckes aus vom Staate als dem natur- und vernunftnotwendigen Zustande, „in welchem allein das gesamte Volksleben zu einer geschichtlichen Entwicklung kommen soll und kommen kann.“[7] Die Überwindung der dieser Entwicklung entgegenstehenden Hindernisse ist ein Gemeininteresse der Menschheit, denn der Mensch als Sozialwesen kann seine Zwecke nur in völkerschaftlicher Verbindung mit anderen erreichen. Dies nicht nur durch Erhaltung eines geordneten Rechtszustandes, sondern auch durch „Bewirkung solcher Einrichtungen und Anstalten, deren Beschaffung ausserhalb der Kraft des Individuums liegt“, anzustreben, ist die Aufgabe des Staates. – Bluntschli[8] nennt als Hauptzweck des Staates das öffentliche Wohl, präzisiert diesen Begriff aber, um die Nachteile der eudaimonistischen Theorie zu vermeiden, dahin, dass er darunter die Entwicklung der Volksanlage und Vervollkommnung des Volkslebens versteht, die jedoch nicht im Widerspruch stehen dürfe mit der Bestimmung


  1. Das Naturrecht. (2. Aufl. 1846) S. 118.
  2. Vergl. ferner Eötvös, Der Einfluss der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat. II. S. 97 ff., der Sicherheit als Staatszweck angibt, darunter aber sehr Verschiedenes versteht. – Weitere Literatur über den Rechtsweck bei Zachariae, Deutsches Staats- und Bundesrecht I. (1853) S. 39.
  3. Art. „Staatsverfassung“ in v. Rotteck u. Welcker’s Staatslexikon. XII. (1848) S. 366.
  4. De cive, XIII. 15: „Libertas civium non in eo sita est, ut legibus civitatis exempti sint, vel ut ii qui civitatis summam potestatem habent, non possint leges ferre quascunque volent. Sed quoniam omnes motus et actiones civum legibus nunquam circumscriptae sunt, neque circumscribi propter varietatam possunt, necesse est, ut infinita pene sint, quae neque jubentur, neque probibentur; sed facere vel non facere suo quisque arbitrio potest . . . . .“ Ferner: Leviathan II. 21 (A. R. Waller Cambridge, 1904) S. 155: „As for other Lyberties, they depend on the Silence of the Law. In cases where the soveraign has prescribed no rule, there the Subject hath the Liberty to do, or forbeare, according to his own discretion.“
  5. Contrat social II. 6. Insbesondere: „J’appe le donc république tout Etat, régi par des lois, sous quelque forme d’administration que ce puisse être: car alors seulement l’intérêt public gouverne, et la chose publique est quelque chose. Tout gouvernement légitime et républicain . . . .“
  6. Vergl. z. B. Bähr, Der Rechtsstaat (1864) v. Holtzendorff, Politik, S. 213 f. Gneist, Der Rechtsstaat. Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 242 f. Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches II. S. 172 f. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I. S. 53 ff. u. a.
  7. Grundsätze des allgemeinen und deutschen Staatsrechts. (4. Aufl.) 1855. I. S. 42.
  8. Allgemeine Staatslehre (5. Aufl.) 1875 S. 358 ff. Etwas abweichend davon bei Bluntschli und Brater, Deutsches Staatswörterbuch IX. (1865) S. 624 (Art. „Staat“).
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/78&oldid=- (Version vom 9.7.2021)